Deutschland
Arno Borst
Balzan Preis 1996 für Geschichte: Kultur des Mittelalters
Die Biographie Arno Borsts (1925 – 2007) ist nicht reich an äusseren Ereignissen. Das Studium begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Göttingen, hauptsächlich bei dem Mediävisten Percy Ernst Schramm und bei dem Orientalisten Hans Heinrich Schaeder. Es endete im Jahre 1951 mit einer Dissertation, die den Autor mit einem Schlage bekannt machte: mit dem grundlegenden Werk Die Katharer. Es folgte ein Dezennium zu Münster in Westfalen, unter der leitenden Hand von Herbert Grundmann. Borst hat sich damals mit dem Turmbau von Babel habilitiert, mit einer Schrift, welche die Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker darstellt. Man hat errechnet, dass für die sechsbändige Druckfassung dieses Werkes etwa 10.000 Bücher und Aufsätze benutzt wurden. Der erste Ruf, im Jahre 1962, führte Borst nach Erlangen und somit in die Nähe seiner fränkischen Heimat. Sechs Jahre später begab er sich an die kurz zuvor gegründete Universität von Konstanz, und dort, im deutsch-schweizerisch-österreichischen Grenzgebiet, ist er, allen späteren Lockungen zum Trotz, bis heute geblieben.
Borst hat sich seit jeher rege an der Wissenschaftsverwaltung beteiligt; er gehört zum Beispiel der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica an. Hervorstechend ist indes seine Neigung zur Zurückgezogenheit: Er hat sich in ungewöhnlichem Masse auf den Kern der Gelehrtenexistenz, auf die Forschung, konzentriert. So erklären sich drei Charakteristika seines Oeuvres: der enorme Umfang; die staunenswerte, stets auf die Primärquellen zurückgreifende Gründlichkeit; die stilistische Brillanz.
Borst ist Kulturhistoriker par excellence; seine Schriften haben sich gleichermassen ziemlich aller Länder Europas angenommen. Wiederholt hat er sich den Regionen gewidmet, die seine akademische Laufbahn ihm nahebrachte. So ging aus seiner Erlanger Zeit das Buch über die Legenden des Sebaldus, des Patrons von Nürnberg, hervor; so entstand in den ersten Jahren seiner Tätigkeit in Konstanz das Werk Mönche am Bodensee, eine Sammlung von Biographien, welche die jeweiligen Protagonisten in ihrem kirchen— und landesgeschichtlichen Kontext darstellen. Zuvor hatte Borst bereits sein bislang erfolgreichstes Buch veröffentlicht, die Lebensformen des Mittelalters, eingrandioses Panorama, das an Hand ausgewählter Quellentexte alle Bereiche menschlicher Existenz, alle Schichten und Berufe des mittelalterlichen Europa Revue passieren lässt. Die jüngste Werkgruppe konzentriert sich auf einen meist stiefmütterlich behandelten Teil der mittelalterlichen Bildung: auf das mathematische Quadrivium. Die Wiederentdekkung der Rhythmomachie, eines im Hochmittelalter weit verbreiteten Spiels, eröffnet den Reigen; Studien über das Astrolab, ein astronomisches Instrument, und über den Computus, die Zeitrechnung, setzen diese Reihe fort.
Borst hat keine Historik verfasst. Alle Theorie und Methode ist bei ihm aufs engste mit dem jeweiligen konkreten Gegenstand verbunden. Der einzelne Mensch, der einzelne Fall steht bei ihm im Mitteipunkt; von dessen jeweiliger Situation aus sucht er zum Allgemeinen vorzudringen. Er begleitet alles Ereignishafte mit wacher, jedoch nie aufdringlicher Reflexion. Er bemüht sich, den Standpunkt eines Beobachters einzunehmen, der die Dinge sowohl aus nächster Nähe als auch aus gebührender Distanz betrachtet. Er wird nicht müde, die Fremdheit des Mitteialters hervorzuheben; zugleich aber kommt es ihm auf das an, was die Menschen von Einst und Jetzt gemeinsam haben:die condicio humana.