Deutschland
Jürgen Osterhammel
Balzan Preis 2018 die Globalgeschichte
Geboren 1952 in Wipperfürth, wandte sich Jürgen Osterhammel zunächst dem Studium der Germanistik, der Politikwissenschaft und der Geschichte an der Universität Marburg zu und anschließend, unter der Leitung von Ian Nish an der London School of Economics and Political Science, der internationalen Geschichte. 1980 wurde er an der Universität Kassel in Geschichte promoviert. Von 1982 bis 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London, das damals von Wolfgang J. Mommsen geleitet wurde. Von 1986 bis 1990 war er Akademischer Rat im Fach Politikwissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau, wo er sich 1990 für Neuere und Neueste Geschichte habilitierte. Von 1990 bis 1997 war er Professor für Neuere und Außereuropäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen. Von 1997 bis 1999 lehrte er als ordentlicher Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen am Institut Universitaire des Hautes Études Internationales in Genf. Von 1999 bis März 2018 war er Professor (nunmehr Emeritus) für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.
Jürgen Osterhammel ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Accademia delle Scienze in Turin sowie der British Academy. Er hat renommierte Auszeichnungen erhalten, darunter den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2010 der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Gerda Henkel Forschungspreis (2012), den Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2014) und den Toynbee Prize (2017). 2017 wurde ihm der Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste verliehen.
Mit seiner Doktorarbeit Britischer Imperialismus im Fernen Osten. Strukturen der Durchdringung und einheimischer Widerstand auf dem chinesischen Markt 1932-1937, Bochum 1983, und seiner Habilitationsschrift China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989 (chinesische und italienische Übersetzung), profilierte sich Jürgen Osterhammel dank seinem innovativen Ansatz, der die Verwicklung Chinas im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontext des Westens analysiert. Bereits in dieser ersten Forschungsphase fand er Anerkennung als einer der interessantesten europäischen Historiker seiner Generation.
Noch stärkeren Einfluss auf die internationale Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im allgemeinen hatte sein Werk Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998 (chinesische und englische Übersetzung). Es erschien jüngst in einer vollständig überarbeiteten und aktualisierten Übersetzung ins Englische: Unfabling the East. The Enlightenment’s Encounter with Asia, Princeton 2018. Mit diesem Werk, das auf einer außergewöhnlichen Gelehrsamkeit beruht, stellt er der Forschergemeinschaft nebst neuen Interpretationen „klassischer“ Autoren eine große Anzahl von Dokumenten zur Verfügung, die nie zuvor berücksichtigt worden waren. Das Buch differenziert in sehr geglückter Form die berühmten Grundthesen von Edward Saids Orientalism (1978) und krempelt diese teilweise gar um. Osterhammel bietet ein Bild der Aufklärung, das nicht eurozentrisch ist. Durch individuelle und kollektive Geschichten führt er die wissenschaftliche Neugier, die Bewunderung und die zwischenmenschliche Annäherung vor Augen, mit welcher die westliche Kultur damals den Orient betrachtete – im weiten Sinn, der vom Osmanischen Reich über Indien bis China und Japan reicht. Erst gegen Ende des Untersuchungszeitraums richtete sich Europa auf eine strenge ideologische Deutung aus, die vom eigenen Überlegenheitsgefühl ausging. Osterhammels hohe Schreibkunst trägt zur kreativen Dimension seines Werkes bei und regt den Leser gleichzeitig zu kritischer Wachsamkeit an.
Es ist nicht möglich, Jürgen Osterhammels Beiträge zur Globalgeschichte in den Hunderten von Artikeln nachzuzeichnen, die in zahlreichen Zeitschriften und Bänden in Deutschland und in vielen anderen Ländern erschienen sind. Seine während etwa vierzig Forschungsjahren aufgebauten Fähigkeiten erreichen ihren Höhepunkt in seinem von vielen als Meisterwerk und als Meilenstein der Globalgeschichte angesehenen Werk: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1586 Seiten (in verschiedene Sprachen übersetzt). Die Weltgeschichte eines Jahrhunderts entsteht aus einer Vielzahl von Beobachtungspunkten, von denen aus der Autor seine Verbindungen und Vergleiche entwickelt. Die Integrationsprozesse auf weltweiter Ebene werden systematisch untersucht und in den verschiedenen Kapiteln des Werkes dargestellt, die der Erinnerung, der Zeit, dem Raum, der Mobilität der Menschen, dem Lebensstandard, den Städten, den Grenzen, den Imperien und Nationalstaaten, dem Krieg, den Revolutionen, dem Staat, der Energie und Industrie, der Arbeit, den Netzwerken und Hierarchien, dem Wissen, der „Zivilisierung“ und Ausgrenzung sowie der Religion gewidmet sind.
Für Jürgen Osterhammel als hochgelehrter Historiker ist die Kommunikation über die Fachkreise hinaus von großer Bedeutung: Dank der Qualität seiner Schriften und seinem schriftstellerischen Talent, dank seiner Präsenz in Zeitungen und als Herausgeber von verständlichen Überblicksdarstellungen haben seine Forschungen und Ideen eine sehr breite und für einen akademischen Historiker ungewöhnlich große Leserschaft erreicht. Wie wenig andere hat er dazu beigetragen, die Kenntnisse der Globalgeschichte, deren Methoden und Bedeutung in der interessierten Öffentlichkeit zu verbreiten. Nicht zuletzt stellen die sechs Bände der parallel auf Deutsch und Englisch erscheinenden Geschichte der Welt/History of the World (2012 ff.), die er gemeinsam mit Akira Iriye herausgibt, ein facettenreiches Referenzwerk für das Studium der Globalgeschichte dar.