Deutschland/Schweiz
Walter Burkert
Balzan Preis 1990 für Altertumswissenschaften
Es ist seit jeher bekannt, dass die Forschung auf dem Gebiet der griechischen Religion nicht nur die Beherrschung aller Aspekte der Altertumswissenschaften, der Philologie, Archäologie, Kunst und Philosophie, sondern auch die Kenntnis der Anthropologie und die Vertrautheit mit den Religionen Aegyptens und des Vorderorients voraussetzt. Professor Burkert beweist in einer Reihe grundlegender Arbeiten seine Beherrschung der einschlägigen Materie und Methodik, aber auch seine Originalität und Bereitschaft, die von anderen Disziplinen entwickelten Vorstellungen weiterzuentfalten.
In seiner ersten grösseren Publikation Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon stellte er unsere Kenntnis des Pythagoras und des Pythagoreertums auf eine neue Grundlage, indem er die Unterschiede zwischen den dogmatischen und aphoristischen Lehren, die Pythagoras einer übernatürlichen Macht zuschrieb, und den mathematisch, naturwissenschaftlichen Forschungen der späteren Pythagoreer herausarbeitete. In Homo Necans, einer Studie über die Geschichte des Opfers und einem Versuch zur Deutung kollektiven Blutvergiessens geht er weit über die konventionellen Grenzen des Altertums hinaus; er berücksichtigt Zeugnisse der neolithischen und paläolithischen Kulturen und verwertet erfolgreich Beobachtungen des allgemeinen Verhallens sozialer Säugetiere. Dieses Buch war eine wichtige Vorstufe zu seinem Werk Structure and History in Greek Mvthology and Ritual, welches eine tiefgreifende Kritik schematischer und simplizistischer Ansätze zur Mythologie enthält und die Beziehung von Mythos und Ritual in ihrer geschichtlichen Entwicklung darstellt. Das Buch war das Ergebnis seiner Sather Lectures in der University of California. Im gleichen Jahr erschien seine Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, die dank ihrem wissenschaftlichen Gehalt, der Klarheit des Gedankengangs und der thematischen Ausgewogenheit sofort zum Standardwerk auf diesem Gebiet wurde.
Nach der Ausweitung der diachronischen Dimension der Religionswissenschaft unternahm er mit dem Buch Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur eine entsprechend synchronische Ausweitung, indem er nachwies, dass die sogenannte “orientalisierende Periode” in der griechischen Kunst lediglich einen Aspekt einer weitreichenden Übernahme asiatischer Kultur- und Religionseinflüsse darstellte. In letzter Zeit hat er mit Ancient Mvstery Cults seine grosse Fähigkeit bewiesen, über die Altertümelei, die so oft mit dem Studium der antiken Kulte verbunden ist, hinauszukommen und die Tiefe der religiösen Erfahrung und deren Bedeutung für den Bürger eines antiken Staates zu erfassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass kaum ein anderer Forscher einen derart umfassenden Beitrag zu unserem Verständnis der antiken Religionen geleistet hat.