Italien
Carlo M. Cipolla
Balzan Preis 1995 für Wirtschaftsgeschichte
Im Alter von 27 Jahren, wurde Carlo M. Cipolla (1922 – 2000) 1949 als ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeschichte an die Universität Catania berufen. Er lehrte sodann an mehreren anderen italienischen Universitäten und ab 1959 auch an der University of California zu Berkeley. Er war als Gastprofessor an französischen, belgischen, schwedischen, deutschen, amerikanischen, spanischen und englischen Universitäten tätig. Er ist jetzt Professor emeritus der Wirtschaftsfakultät der University of California, Berkeley, sowie der Scuola Normale Superiore von Pisa. Die Mehrzahl seiner 21 Bucher wurde in mehrere Sprachen übersetzt, die Schrift “The Economic History of World Population” in insgesamt dreizehn.
Dieser aussergewöhnliche Erfolg Cipollas ist durch die Vielfalt seiner Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte bedingt. Im Jahre 1952 erschien die Schrift “Mouvements monétaires dans l’Etat de Milan 1580 à 1700. In den sechziger Jahren hat er zwei Bücher veröffentlicht, die für die Erforschung der europäischen Expansion in Übersee sowie des Kontrasts der Kulturen in Ost und West Pionierarbeit leisteten: “Guns and Sails in the Early Phase of European Expansion”, London 1965, und “Clocks and Culture 1300-1700”, London 1967. Diese Werke haben auf Grund ihrer Zusammenschau wirtschafts-, technik-, kultur- und militärgeschichtlicher Gegebenheiten erheblich zum besseren Verständnis der Ursachen beigetragen, die die ökonomische und politische Überlegenheit Europas bedingten. In den siebziger Jahren hat Cipolla grundlegende Untersuchungen über die Auswirkungen der Pest und anderer Seuchen vorgelegt: “Cristofano and the Plague. A Study of Public Health in the Age of Galileo”, London-Berkeley-Los Angeles 1973, und “Public Health and the Medical Profession in the Renaissance”, Cambridge 1976. Um dieselbe Zeit veröffentlichte er eine herausragende Darstellung des vorindustriellen Zeitalters: “Before the Industrial Revolution: European Society and Economy 1000-1700”, New York 1976. Er hat seither seine Studien auf den genannten Gebieten ständig vertieft; er wird demnächst eine “Storia della moneta spagnola nel Cinque e Seicento” (die Geschichte der Münze “Real de a Ocho” oder “Piece of eight”) vorlegen. Eine seiner Aufsatzsammlungen, “Le leggi fondamentali della stupidità umana”, hat in Frankreich eine theatralische Darbietung hervorgerufen, deren Erfolg sich an den Aufführungen in etwa zwanzig Städten ablesen lässt. Seine sechs Monographien über die Epidemien und das öffentliche Gesundheitswesen, hierunter als letzte “Miasmas and Disease: Public Health and the Environment in the Pre-Industrial Age”, New Haven-London 1992, gelten bei den Medizinhistorikern als “the most important, accessible, and comprehensive overviews of disease, medical theory, and public health in any region of early modem Europe” (Isis 85:3, 1994, 517).
Diese Beispiele zeigen, dass Cipolla – im Unterschied zu vielen anderen Wirtschaftshistorikern – seinem Fach eine möglichst breite Basis zu geben sucht: Er begnügt sich ihm gegenüber nicht mit dem technischen Instrumentarium des Ökonomen: er will vielmehr auch die soziale und vor allem die kulturelle Dimension darin einbezogen wissen. Nie verlieren seine anschaulichen Darlegungen die jeweils beteiligten Menschen aus den Augen, so dass man in seiner Art des Zugangs zu den ökonomischen Gegebenheiten ein humanistisches Engagement erkennen kann.
Dies hat jedoch Cipolla nicht davon abgehalten, die Grundbegriffe der ökonomischen Theorie mit Eleganz und vor allem mit grosser Strenge anzuwenden. Diese Selbstkontrolle seiner Gedankenführung und seiner Art des Vorgehens macht sich in allen seinen Werken bemerkbar, und ebenso in seinen Lehrveranstaltungen und seinen Beiträgen zu Diskussionen. Dort haben seine Auffassungen stets autoritatives Gewicht, und es gelingt ihm, das Gespräch auf die massgeblichen Prinzipien zu bringen: auf Gesetzmässigkeiten und Verhaltensweisen in der Wirtschaft.
Die Originalität Cipollas bekundet sich nicht zuletzt in der ganz ungewöhnlichen Vielfalt seiner Interessen. Nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit, und jeder Gegenstand gibt ihm Gelegenheit, ein Problem dingfest zu machen. Die Demographie, die Erziehung, die Technik, das Gesundheitswesen, das Geld, die wirtschaftlichen Strukturen, die langfristigen Konjunkturen: in keines dieser Gebiete hat er sich nicht mit grossem Mut vorgewagt, mit seltener Gelehrsamkeit und einer Art von Enthusiasmus, die der Schlüssel für seine Sensibilität zu sein scheint sowie für seine Weise, die wahren Probleme anzugehen. Cipolla hat viel geschrieben, meist übersichtliche Bücher von geringerem Umfang, die, ohne sich viel mit Digressionen aufzuhalten, geradewegs auf das Wesentliche zusteuern. Dies ist auch der Grund, weshalb den meisten von ihnen ein ausserordentlicher Erfolg beschieden war, der sich sowohl an den Neuauflagen als auch an den zahlreichen Übersetzungen ablesen lässt. Dieses breite Spektrum von Schriften ist nirgends durch Oberflächlichkeit erkauft. Jede Studie gründet sich auf die erschöpfende Kenntnis nicht nur der jeweils einschlägigen wissenschaftlichen Literatur, sondern auch der in Betracht kommenden archivalischen Quellen. Mit seltenem Spürsinn gedeutet, offenbaren die letzteren diesem Forscher, der über ein grosses Geschick, Folgerungen daraus abzuleiten, verfügt, die verborgenen Mechanismen ökonomischer und kultureller Verhaltensweisen.