USA
David Damrosch
Balzan Preis 2023 für Weltliteratur
David Damrosch, Ernest-Bernbaum-Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Harvard University und Direktor des Instituts für Weltliteratur, begann als Spezialist für die frühe epische Tradition der Weltliteratur. In The Narrative Covenant (1987) zeichnet er die dynamische Entwicklung der großen historischen Erzählungen der Bibel, insbesondere des Pentateuchs, nach und hebt ihre Gattungsvielfalt und ästhetische Qualität hervor. Zwanzig Jahre später kehrt er zu einem noch früheren Text zurück, der in dieser Untersuchung eine wichtige Rolle als Voraussetzung der biblischen Epik spielte. In The Buried Book (2007) erzählt er die Geschichte der Wiederentdeckung der zweitausend Jahren lang verschollenen Gilgamesch-Tontafeln und führt in dieses große Epos und seine moderne Rezeption ein.
What Is World Literature? (2003) hat die Entwicklung der vergleichenden Literaturwissenschaft in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus maßgeblich beeinflusst: Anhand von Fallstudien, die vom sumerischen Gilgamesch bis zur altägyptischen Poesie, von der mittelalterlichen Mystik bis zur postmodernen Metafiktion reichen, untersucht David Damrosch, wie sich Werke verändern, wenn sie über ihre Herkunftskultur hinaus verbreitet werden. Gegen die lange Zeit vorherrschende Vorstellung von Weltliteratur als einem etablierten Kanon vorwiegend westlicher Klassiker plädiert er, ganz im Sinne Goethes, für eine Idee von Weltliteratur, die die Verbreitung und Lektüre literarischer Werke betont: „Werke der Weltliteratur erhalten ein neues Leben, wenn sie in die Welt hinausgehen“. Dieses neue Leben ist das Ergebnis eines Prozesses der Transkulturalisation, der die Werke an andere Kulturen anpasst. Eine wichtige Rolle bei diesem reframing spielen Übersetzungen, die alte und neue Werke immer wieder kontextualisieren und einer neuen Leserschaft zugänglich machen. Damrosch sieht in der sich beschleunigenden Globalisierung eine Chance für Schriftsteller, insbesondere aus dem außereuropäischen Raum, ein breiteres Publikum zu erreichen und einen echten Dialog zwischen den Kulturen zu fördern.
Gleichzeitig ist er sich der Gefahr bewusst, dass ein solcher Dialog verpasst wird, weil „Werke von nicht-westlichen Autoren oder von provinziellen oder untergeordneten westlichen Schriftstellern den unmittelbaren Interessen und Agenden derer, die sie herausgeben, übersetzen und interpretieren, assimiliert werden“.
In weiteren Büchern (How to Read World Literature, Comparing the Literatures, und Around the World in 80 Books), zahlreichen (mit)herausgegebenen Standardwerken (u.a. The Longman Anthology of World Literature, Teaching World Literature und World Literature in Theory) und Sammelbänden (u.a. World Literature and Postcolonial Studies) hat er diesen Ansatz erweitert und aktualisiert. Vor allem ergänzt er die Dimension der transnationalen Zirkulation von Werken um den Aspekt einer immanent weltliterarischen Produktion, etwa bei Autoren, die zwischen mehreren Sprachen und Kulturen schreiben.
David Damrosch ist sich bewusst, dass er durch seine Verortung im US-amerikanischen Kontext vom hegemonialen Status des globalen Englischen profitiert. Umso beeindruckender ist es, wie aufmerksam er die Impulse anderer Wissenschaftstraditionen aufnimmt, wie energisch er – gegen den vorherrschenden Präsentismus – auf die historische Tiefe der Weltliteraturforschung pocht und welche stupende Fülle an Werken nicht-westlicher Kulturen er in seinen Analysen abdeckt. Auch wenn er die „Ideologie des originalsprachlichen Arbeitens“ ablehnt und für einen kritisch-reflexiven Umgang mit Übersetzungen plädiert, ist er doch in der Lage, viele der von ihm behandelten Texte im Original zu lesen, auf Deutsch, französisch, Spanisch, Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Nahuatl, Altnordisch, Akkadisch, (biblischem) Hebräisch, von ägyptischen Hieroglyphen ganz zu schweigen.
Mit seinem umfangreichen und vielseitigen Werk ist David Damrosch einer der angesehensten und einflussreichsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Weltliteraturforschung.