Frankreich

Dominique Schnapper

Balzan Preis 2002 für Soziologie

Für ihr soziologisches Gesamtwerk, das in überzeugenden Untersuchungen die verschiedensten Formen der Entwicklung moderner Gesellschaften von der Soziologie kultureller Neuerungen bis zur Soziologie der Verwaltung vor allem Probleme der sozialen Integration und des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat analysiert.

Das soziologische Lebenswerk von Dominique Schnapper umfasst ein weites Feld der sozialen Welt. Ihre Arbeiten über die kulturellen Vorbilder und politischen Verhaltensweisen in Italien, über die ästhetischen Ansprüche und sozialen Ziele moderner Gesellschaften fanden eine unerwartete Fortsetzung in ihren Untersuchungen der grossen Verwaltungskörper Frankreichs wie später in ihren Forschungen über Wesen und Inhalt der Arbeit und der Arbeitslosigkeit in Zeiten der Krise staatlicher Finanzhaushalte.
Seit Ende der achtziger Jahre beschäftigt sich Dominique Schnapper mit Integrationsproblemen, die seit den grossen Massenwanderungen unserer Zeit auftreten. Sie stellte fest, dass diese Migrationen den Integrationswert politischer Konflikte verändern, indem diese im Vergleich zur aktiven Teilnahme am Wirtschaftsleben an Bedeutung verlieren. Die Anziehungskraft europäischer Länder beruht nunmehr auf ihrem Angebot an Arbeit und sozialer Absicherung. Infolgedessen verflüchtigen sich die nationalen Zugehörigkeitsformen und präsentieren sich den Einwanderern nur noch in der Sprache ökonomischer Interessen.
In ihrem Buch über „Die Gemeinschaft der Staatsbürger. Zum modernen Begriff der Nation“ (La communauté des citoyens. Sur l’idée moderne de Nation) von 1994 analysiert Dominique Schnapper den Aufbau und die Funktion der modernen Nation. Deren Ziel war es bislang, die Bevölkerungsgruppen in einem systematischen – nie abgeschlossenen – Prozess zu integrieren und die partikularen Loyalitäten – gleichgültig ob religiöser, sozialer oder ethnischer Natur – mit Hilfe der abstrakten Idee der Staatsbürgerschaft zu überwinden.

Heute erleben wir eine Schwächung der Staatsbürgerschaft und der politischen wie der sozialen Bindungen, anders gesagt der Nation und der Demokratie, und dies infolge der Globalisierung wirtschaftlicher Austauschprozesse, der Ausrichtung des öffentlichen Lebens auf die Schaffung und Verteilung von Reichtum in einer Gesamtsicht, die die Politik als von der Wirtschaft beherrscht sieht.
Die Ethnisierung der politischen Grundidee eines Staates, d. h. ihre Anbindung an eine identitätsstiftende Tradition, führt dazu, dass Produktion und Konsum zum eigentlichen Stimulus moderner Demokratien werden. Der homo oeconomicus hat den homo politicus abgelöst; private Interessen haben die Oberhand über den Gemeinsinn gewonnen. Weder der Aufbau Europas noch der Widerstand gegen ihn lassen andere Antriebe als wirtschaftliche Interessen erkennen. Der Patriotismus wird in unseren Demokratien nur noch mobilisiert, wenn es darum geht, den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung zu sichern. Die Feindlichkeit gegen Einwanderer verdankt ihre Stärke dem Willen, die Wohltaten der sozialen Sicherheit nicht mit Fremden zu teilen.
Die europäische, auf universalistischen Prinzipien beruhende Tradition der Demokratie zeichnet sich durch einen generellen Kultur-Relativismus aus, der Werturteile über fremde Kulturen ausschliesst und deren grundlegende Gleichberechtigung anerkennt. Europa befindet sich daher in der schwierigen Situation, den Wert anderer Gesellschaften anzuerkennen, die sich in ihrer Ethik zu Intoleranz und Exklusivität bekennen, während es selbst diese Werte ablehnt. Dieser Widerspruch liegt der Malaise moderner Gesellschaften zugrunde. Universalismus und Partikularismus widersprechen einander, können sich jedoch in ihren perversen Auswirkungen verbinden.
Die moderne Nation ist geschichtlich untrennbar mit der universalen und rationalen Demokratie verbunden. Sie richtet sich an den vernünftigen Teil der menschlichen Natur. Die Nation verlangt Ehrfurcht, Aufopferung, Vaterlandsliebe. Die Demokratie vermag diesen Gefühlen nicht gerecht zu werden. Ohne sie können wir jedoch nicht leben, unserem Leben einen Sinn geben. Wir müssen deshalb für das Gefühlsleben eine zivilisierte Form finden. Dies kann nur der Gemeinsinn leisten und die moderne Nation legitimieren.
In ihrem Werk von 1998 „Die Beziehung zum Anderen. Das Zentrum soziologischen Denkens“ (La relation à l’autre. Au cœur de la pensée sociologique) setzt sich Dominique Schnapper mit folgenden Fragen auseinander: Wie kann man in Gesellschaften, die auf der Souveränität des Individuums beruhen, soziale Bindungen wieder herstellen, nachdem die Religion die Menschen nicht mehr miteinander verbindet und die Staatsbürgerschaft nicht mehr die Grundlage politischer Legitimation und die Quelle sozialer Bindungen darstellt? Wer ist in unseren Gesellschaften der Andere, und wie können wir ihn in seiner Eigenart, zugleich aber als gleichberechtigten Akteur anerkennen? Wenn das Prinzip der Staatsbürgerschaft die politische Legitimität moderner demokratischer Nationen begründet und zugleich das Fundament des sozialen Zusammenhaltes ist, was folgt daraus für unsere Beziehung zum Anderen?
Diese Fragen löst Dominique Schnapper mit ihrer Theorie der interethnischen Beziehungen: Wir müssen eine neue nationale Identität ausarbeiten, die offener ist und einen auf Gemeinschaftsvorstellungen beruhenden Seinsbegriff ablehnt, die vielmehr im universalistischen Politikprinzip verankert, dem sozialen Zusammenhalt den Gemeinsinn zugrunde legt.

In ihrem 2002 veröffentlichten Buch „Die fürsorgliche Demokratie. Versuch zur gegenwärtigen Gleichheit“ (La démocratie providentielle. Essai sur l’égalité contemporaine) zeigt Dominique Schnapper, dass der Staat heute auf allen sozialen Gebieten im Interesse und auf ausdrücklichen Wunsch aller sozialen Gruppen eingreift. Seit 1945 sind wir von den Freiheitsrechten auf Anspruchsrechte übergegangen, auf Rechte, welche die einzelnen Personen von den Behinderungen ihrer Handlungsfreiheit befreien und ihnen materiellen Komfort, Schutz gegenüber ökonomischen Risiken, kurz das Glück auf Erden versprechen. Seither zielt das Eingreifen des Staates nicht nur auf die Gleichheit der Chancen und Möglichkeiten, sondern auch der Lebensbedingungen aller Bürger. Die staatlichen Massnahmen wirken sich nicht allgemein verbindlich aus, wie es dem Prinzip der formalen Gleichheit aller Staatsbürger entspräche. Sie bemühen sich vielmehr um die Lösung zahlloser individueller oder kategorieller Fälle. Die formale Gleichheit macht der realen Gleichstellung Platz. Diese Gleichstellung führt aber dazu, Einzel- und Gruppeninteressen zu fördern. Der Anspruch auf formelle Gleichheit ist im Begriff, die Staatsbürger auf Kosten ihrer staatsbürgerlichen Bindung in blosse In-Anspruch-Nehmer von Rechten zu verwandeln. Politik wird zur Verwaltung, und der Staatsbürger wird verleitet, sich von der Nationalität zu lösen. Wie aber können und sollen wir zusammenleben, wenn wir nur noch eine Menge von Individuen sind? Könnte ein verfassungsmässig europäisch begründeter Patriotismus diesen Schwierigkeiten abhelfen? Doch existiert überhaupt der politische Wille zu einer Antwort auf diese Fragen?

Die Arbeiten dieser Grande Dame der europäischen Soziologie stehen in der Nachfolge der französischen Gründungsväter der Soziologie, insbesondere in der Tradition Tocquevilles, und postulieren den Primat der Politik über Wirtschaft und Soziales. Dabei geht es ihr weniger um die Konstruktion einer allgemeinen Gesellschaftstheorie als um ein besseres Verständnis der geschichtlichen Gesellschaften Europas.
Von Studie zu Studie, von Buch zu Buch hat Dominique Schnapper ein originelles Gesamtwerk geschaffen, das auch den historischen Sozialstudien neue Perspektiven eröffnet. Ihre innovativen Arbeiten sind frei von vorschneller Kritik, aber auch von Anpassung an modische Diskussionen, wie etwa über Integration und Immigration. Sie vermeiden ebenso die trockene Wissenschaftlichkeit wie die essayistische Unverbindlichkeit, die oft akademische Veröffentlichungen kennzeichnen.

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