Ungarn/Österreich
György Ligeti
Balzan Preis 1991 für Musik
Die ersten Kompositionen von Ligeti (1923 – 2006), wie zB. das Streichquartett Nr. 1, Metamorphoses nocturnes, (1953-54), die er vor seiner Emigration schuf, gehören zur Ungarischen Schule und verraten den Einfluss des von ihm verehrten Bartóks. Nach seiner Emigration in den Westen machte er sich mit den tonkünstlerischen und kompositionstechnischen Neuerungen der experimentellen Musik vertraut und beteiligte sich aktiv an elektroakustischen Forschungen. Verstärkt durch diese neuen Erfahrungen, schlug er seinen eigenen Weg ein und schuf, ah 1958, eine Reihe einzigartiger Kompositionen, vor allem für Symphonieorchester, die ihn bekannt machten. Mit Apparitions (1958-59) und Atmosphères (1961), öffnet er das Tor zu einer Erneuerung der Musik, die frei ist von Dogmen der seriellen Komposition. Ligeti betont seine Unabhängigkeit: “Künstlerische Freiheit bedeutet ein Frei-Sein von jeder Scheuklappe, auch von der Modernität”. Ohne der nostalgischen Versuchung einer Wiederverwendung vergangener Stilformen zu erliegen, die er vollendet beherrscht, hat Ligeti der Harmonie, dem Rhythmus und der Melodie ihr volles Gewicht wiedergegeben.
Aventures (1962), Requiem (1963-65), Lontano (1967), Melodien (1971), die Konzerte für Cello (1966) und Klavier (1985-88), die Stücke für Cembalo, Continuum (1968), Passacaglia ungherese (1978) und Hungarian Rock (1978), die Oper Le Grand Macabre (1974-77, nach einem Drama von Michel de Ghelderode), das Trio für die von Brahms eingeführte Kombination von Klavier, Violine und Horn (1982), und die Nonsense Madrigals (1988-89) bestätigen seine erstaunliche Fähigkeit zu Neuschöpfungen und seinen hartnackigen Willen, sich nie mit der Wiederholung einer geglückten Neuerung zufrieden zu geben. Viele seiner Werke sind bereits Klassiker geworden. Sie haben ein breites Publikum gefunden, ohne zu pathetischen Ausdrucksformen greifen zu müssen. In einer stets beherrschten Form bietet Ligeti dem Hörer, selbst wenn er dem Bild der Unordnung Raum gönnt, Tonschöpfungen, welche den vielfältigsten Gefühlen von der ernsten Einkehr bis zum schneidenden Humor Ausdruck geben. Wenn Ligeti mechanische Formeln braucht, dann meist, um selbstzerstörende Maschinen heraufzubeschwören,- wie sie Franz Kafka oder Jean Tinguely schufen.
“Die Musik grabt den Himmel aus” schrieb Baudelaire. Unter den Komponisten dieses Jahrhunderts ist Ligeti derjenige, dessen Werk am genauesten dieser Definition entspricht. Dies zeigt seine Art, die musikalische Zeit als Raum oder besser als eine Traube vielfacher Raume zu behandeln. Er hat es verstanden, darin labyrinthische Wege zu zeichnen oder erstaunliche “Monumente” – wie er ein Werk für zwei Klaviere (1976) bezeichnet – zu errichten. Er ruft einzigartige visuelle Eindrucke hervor mit seiner Behandlung von “Körpern” und Aggregaten, von übereinanderliegenden Ebenen, “Mikropolyphonien”, dichten oder durchsichtigen kontrapunktischen Geweben, akustischen Illusionen, vorgestellten Perspektiven … Die von Ligeti erfundenen Gebilde spiegeln in ihrer extremen Präzision und ihrem unerwarteten Schillern – nach dem Bekenntnis des Komponisten selbst – einige neue Gesichtspunkte des wissenschaftlichen Denkens. Seine Methode, die Verästelungen des Tons zu entfalten, wurde angeregt durch mathematische Entdeckungen, beispielsweise die Geometrie fraktaler Formen. Doch hat er stets der sinnlichen Erfahrung und der Freude am Spiel den Vorrang gegeben.
Die Musik ist für ihn keine Angelegenheit des Intellekts, sondern des Ohrs. Als Künstler unserer Zeit hat Ligeti immer seine Vorgänger und zeitweiligen Begleiter in den Komponisten der Vergangenheit anerkannt und sie uns in neuem Licht gezeigt. Seine Werke machen den Hörer empfänglicher für die Gründungsväter der europäischen Musik (Ockeghem, Machaut, Dufay, Palestrina usw.), aber auch für die Rhythmen und Tonsysteme der uralten afrikanischen und asiatischen Kulturen. Der Raum, den Ligeti erschlossen hat, ist ein doppelter; derjenige des Unerhörten, der sich uns eröffnet, und derjenige einer grossen Tradition, die neubelebt wird und den Hörer zu einer weiträumigen Teilnahme einlädt.