Kanada
Ian Hacking
Balzan Preis 2014 für Epistemologie und Erkenntnistheorie
Ian Hacking (1936-2023), emeritierter Professor der Universität Toronto und Honorarprofessordes am Collège de France, ist einer der angesehensten zeitgenössischen Philosophen der Natur- und Sozialwissenschaften, der sich der Rekonstruktion und der genealogischen Deutung wichtiger wissenschaftlicher Theorien und Konzepte widmet.
Das Leitmotiv von Hackings Forschungstätigkeit besteht in der Rekonstruktion von kulturellen, sozialen, institutionellen und kognitiven Gegebenheiten und Praktiken, in denen wir das Erscheinen oder das plötzliche Auftreten von Sichtweisen, von Argumentationsstilen und Theorien erkennen können, welche unsere aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisse und Orientierungen ändern. Zumindest zwei Sachgebiete der genealogischen Forschung Hackings sind in diesem Zusammenhang beispielgebend: das Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie und dasjenige der Wissenschaften des Gedächtnisses. In das erste Sachgebiet fallen die beiden grundlegenden Beiträge der bereits zu Klassikern avancierten Werke The Emergence of Probability (1975) und The Taming of Chance (1990), welche die Entstehung des Wahrscheinlichkeitsdenkens im 17. Jahrhundert in ihrem zweifachen Gesichtspunkt des Subjektiven und des Objektiven sowie deren Entwicklung im 19. Jahrhundert im sozialen und institutionellen Umfeld der Kontroll- und Regierungsstrukturen aufzeigen.
Auf dem Gebiet der Wissenschaften des Gedächtnisses ist Rewriting the Soul. Multiple Personality and the Sciences of Memory (1995) [deutsch: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne, 1996] das maßgebliche Werk Hackings. Das Erscheinungsbild multipler Persönlichkeiten wird beispielgebend hervorgehoben, um das historische Umfeld zu analysieren, in dem die Rolle der Wissenschaften des Gedächtnisses höchste Bedeutung für die Wissenschaft vom Selbst und für die Klassifizierung von Personentypen einnimmt. In Representing and Intervening (1983) [deutsch: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, 1996] führt Hacking mit großer Sorgfalt, Klarheit und beeindruckendem Wissen um wissenschaftliche Theorie und Praxis seinen Ansatz des „wissenschaftlichen Realismus” in der Epistemologie vor. Die beste Wissenschaftsphilosophie des vergangenen Jahrhunderts hat die anspruchsvolle Methode sowohl vom induktivistischen und verifikationistischen Gesichtspunkt Carnaps als auch vom deduktivistischen und falsifikationistischen Poppers verfolgt.
Hacking zeigt, daß die vorherrschende Rekonstruktion der Wissenschaft irreführend ist und daß die philosophische Analyse der wissenschaftlichen Theorien sich in den wissenschaftlichen Praktiken beweisen muss. Dies verlangt von uns gleichzeitig, die Darstellungen der Welt ebenso ernst zu nehmen wie unsere in der Welt vorgenommenen oder vorzunehmenden experimentellen Eingriffe.
Ian Hackings Ansatz zu unserer Art und Weise, uns selbst und die Welt zu interpretieren, aufzubauen, darzustellen und zu klassifizieren, ist sehr aufschlussreich. Er wird noch lange die philosophische Forschung zur Geschichte und zum Wandel der wissenschaftlichen Erkenntnis begleiten.