Frankreich
Jean-Jacques Hublin
Balzan Preis 2023 für Evolution der Menschheit: Paläoanthropologie
Als französischer Staatsbürger, der einen Teil seiner Karriere in Deutschland verbracht hat, zeichnet sich der 1953 geborene Jean-Jacques Hublin durch ein umfangreiches wissenschaftliches Werk aus, das er vor 45 Jahren begonnen und unermüdlich fortsetzt. Dazu gehören fast 350 Artikel sowie ein Dutzend Bücher in einem Fachgebiet, das sich vor allem dank der neuen Technologien rasant weiterentwickeln konnte.
Die Vielzahl seiner Grabungsterrains, in Afrika (Marokko, Äthiopien, Algerien) und in Europa (Frankreich, Bulgarien) sowie der bahnbrechende Charakter seiner Feldfunde haben unsere Vorstellung von der Geschichte der Menschheit grundlegend verändert. Der Fund des ältesten Beispiels eines Homo sapiens in Afrika am marokkanischen Fundort Djebel Irhoud und des ältesten europäischen Sapiens in der bulgarischen Höhle von Bacho Kiro haben großes Aufsehen erregt.
Der von seinen Forschungsvorhaben und wissenschaftlichen Hypothesen abgedeckte Zeitraum ist außergewöhnlich lang (unteres, mittleres und oberes Pleistozän). Seine Entdeckungen führten zu weitreichenden chronologischen Neubewertungen, die es ihm erlaubten, den Ursprung des Homo sapiens in der Zeit erheblich zurückzuverlegen und die Hypothesen über die geografische Ausbreitung des Homo sapiens außerhalb Afrikas auf der Basis eines multiregionalen Ursprungs grundlegend zu erneuern.
Jean-Jacques Hublin zeichnet sich durch bemerkenswerte Fähigkeiten aus, eine Vielzahl von Daten weit über die Beschreibung von Fakten hinaus sowohl in Bezug auf die Wesensart und Geschichte der Neandertaler und der Denisova-Menschen als auch in Bezug früherster Beispiele des sapiens zu synthetisieren, wobei er innovative wissenschaftliche Technologien (Bildgebung, digitale Werkzeuge, molekulare Techniken, DNA, statistische Analysen, Isotopenanalysen…) zu nutzen weiß.
Seine eingehenden Analysen der Evolution des menschlichen Gehirns, die nicht so sehr durch eine Vergrößerung als vielmehr durch eine Umstrukturierung im Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Kognition (komplexe Sprache und abstraktes Denken) gekennzeichnet ist, haben es ermöglicht, die biologische Evolution mit der geistigen und kulturellen Evolution in einen interdisziplinären Zusammenhang zu stellen. Dazu kommt seine Fähigkeit, Ansichten aufgrund von neuen Entwicklungen in der Disziplin nach archäologischen Entdeckungen oder der Einführung neuer Technologien zu modifizieren sowie Perspektiven durch Abkehr von der evolutionären Linearität, durch Inversion von Norm und Abweichung oder durch Aufdeckung multipler Kausalitäten (biologisch, klimatologisch, kulturell …) umzukehren.
Es ist ihm gelungen, die Autonomie der Wissenschaft gegen ideologische Trittbrettfahrer einer Disziplin zu verteidigen, die sich gegen religiöse Vorurteile hatte konstituieren müssen, welche heute durch den zunehmenden Einfluss des Kreationismus wieder reaktiviert werden.
Mit großem Engagement bei der Leitung und Organisation erfolgreicher multidisziplinärer Teams widmete er sich sowohl der Feldarbeit als auch im Labor etwa im Rahmen seiner Direktion des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und bei der Gründung der Europäischen Gesellschaft für die Erforschung der menschlichen Evolution (European Society for the study of Human Evolution).
Sachbücher wie auch seine Vorlesungen am Collège de France, zunächst als Gastprofessor und später als ordentlicher Professor des 2021 geschaffenen Lehrstuhls für Paläoanthropologie, unterstreichen seine Lehrkompetenz für eine interessierte Öffentlichkeit. Sein Sinn für das treffende Bild und für packende Formulierungen machen ihn zu einem brillanten Vermittler der großartigen Entwicklungen seiner Disziplin.