Frankreich

Jean-Pierre Changeux

Balzan Preis 2001 für kognitive Neurowissenschaften

Professor Changeux' tiefer und umfassender Beitrag reicht von den grundlegenden molekularen Mechanismen der chemischen Kommunikation im Nervensystem bis hin zu den Lernprozessen und zum Bewusstsein. Ausser seinem ausgezeichneten experimentellen Werk hat Professor Changeux einen theoretischen Beitrag zur Epigenese der neuronalen Netze durch selektive Stabilisierung sich entwickelnder Synapsen und zu verschiedenen kognitiven Aspekten der Erkenntnis geleistet.
Jean-Pierre Changeux hat eine neue Richtung bei der Erforschung der kognitiven Funktionen begründet, indem er sie mit der molekularen Ebene verband.

Der 1936 in Domont (Frankreich) geborene Jean-Pierre Changeux, Professor am Collège de France und am Institut Pasteur in Paris, gilt als einer der Väter der modernen Neurobiologie. Grundlegend sind seine Untersuchungen über die Rezeptoren des Acetylcholins, das aus den elektrischen Organen einiger Fischarten isoliert wurde, um die Funktionsweise zu erklären, mit der die Neuronen des Gehirns miteinander kommunizieren. Abgesehen davon, daß Changeux als hervorragender Molekular- und Zellbiologe gilt, wird er aufgrund seiner außerordentlichen Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, Brücken zwischen dem Leben und der humanistischen Kultur zu schlagen, auch als maître à penser und als „Humanist des 21. Jahrhunderts“ betrachtet. Das beweisen auch seine Bücher. „L’homme neuronal“, 1983 erschienen, ist ein Paradebeispiel für wissenschaftliche Sachliteratur auf hohem Niveau und wurde bald zu einem Klassiker auf dem Gebiet der Neurowissenschaften. Zwei Bücher mit Gesprächen mit bekannten Wissenschaftlern unserer Zeit beweisen sein philosophisches Interesse. Mit dem Mathematiker Alain Connes (Matière à pensée, 1989) diskutierte er über das Wesen mathematischer Gegenstände in unserem Gehirn. Mit dem Philosophen Paul Ricoeur (Balzan-Preis 1999 für Philosophie) setzte er sich über die Beziehungen zwischen Geist und Gehirn auseinander (in seinem Buch La nature et la règle, 1998). Sein Buch Raison et plaisir aus dem Jahre 1994 zeigt sein leidenschaftliches Interesse für die Kunst. Er untersucht hier den „zerebralen“ Ursprung des künstlerischen Schöpfungsaktes und seinen Genuß.

Laudatio

Die Forschungen von Jean-Pierre Changeux befassen sich mit den grundlegenden Mechanismen von Molekülen und Zellen, die an der Wahrnehmung von chemischen Signalen und ihrer Transduktion in biologische Aktivitäten beteiligt sind. Er hat diese Mechanismen, die vom Metabolismus der bakteriellen Zelle bis zur komplexen physiologischen und pharmakologischen Modulation der höheren kognitiven Funktionen des Gehirns reichen, untersucht.

In seiner ersten Arbeit (1961-1964), die er als Doktorand ausführte, entdeckte Jean-Pierre Changeux an einem bakteriellen Enzym, dass die Interaktionen zwischen regulierendem Signal und Substrat in vitro studiert werden können. Dies wurde zur experimentellen Grundlage für den von ihm entwickelten Begriff der allosterischen Interaktion, d.h. der Kommunikation von zwei topographisch getrennten Reaktionsstellen eines Eiweissmoleküls durch Konformationsänderung dieses Moleküls. Jean-Pierre Changeux weitete diese Auffassung sehr bald auch auf die grundlegenden Mechanismen der Transduktion von Signalen aus, welche der Verbindung zwischen den Zellen, besonders denen des Nervensystems, zugrunde liegen.

Jean-Pierre Changeux wandte dann seinen Begriff des allosterischen Proteins vor allem auf den Rezeptor für das Acetylcholin an, das bei der synaptischen, neuromuskularen Reizübertragung beteiligt ist. Es gelang ihm die erste Identifikation und Reinigung eines durch einen Kanal regulierten Proteinrezeptors für Neurotransmitter, des nikotinergen Acetylcholin-Rezeptors. Es war das erste Molekül eines Membranrezeptors, das isoliert und charakterisiert wurde. Jean-Pierre Changeux und sein Team erarbeiteten dann die grundlegenden Charakteristika des Rezeptorproteins: seine elementaren physiko-chemischen Eigenschaften, seine pentamere Struktur, die erste Teilsequenz von N-terminalen Aminosäuren einer Untereinheit, die dann zur Klonierung und Aufklärung der vollständigen Sequenz des Acetylcholin-Rezeptors führte. Sie identifizierten ausserdem den Ort der Bindung des Acetylcholins. Diese Ergebnisse wurden von Jean-Pierre Changeux auf neuronale nikotinerge Rezeptoren des Gehirns ausgedehnt.

Dank seiner Arbeit hat Jean-Pierre Changeux den Neurowissenschaften ein neues grosses Forschungsgebiet eröffnet. Diese Revolution wurde schnell von den niederen Wirbeltieren auf das Gehirn der höheren Wirbeltiere, einschliesslich dasjenige des Menschen, ausgeweitet.

Auf die detaillierten Untersuchungen des Acetylcholin-Rezeptors folgte in den neunziger Jahren eine allgemeine Übertragung seiner Rolle bei den höheren kognitiven Funktionen. Jean-Pierre Changeux fand bei seiner Arbeit an Mäusen heraus, dass gewisse Mutationen des Ionenkanals zu hyperaktiven Rezeptoren führten, die sich verantwortlich für die autosomal dominante Frontallappen-Epilepsie des Menschen erwiesen. Mutationen, die einen Funktionsverlust des Acetylcholin-Rezeptors zur Folge haben, erzeugen ein Defizit des kognitiven Lernens und beschleunigen den Alterungsprozess. Dieser Forschungsansatz hat gezeigt, dass höhere Funktionen wie Langzeitgedächtnis, Aufmerksamkeit, Emotionen und Drogenabhängigkeit sehr stark mit den neuronalen Mechanismen verbunden sind, die vom nikotinergen Acetylcholin-Rezeptor reguliert werden.

Jean-Pierre Changeux und sein Team gehörten zu den ersten, die den Begriff einer „Rezeptorenkrankheit“ prägten, der heute bereits klassisch geworden ist. Andere Teams haben diesen Forschungsansatz aufgenommen und konnten nachweisen, dass die Schizophrenie mit Mutationen einer besonderen Untereinheit des Acetylcholin-Rezeptors zusammenhängt und dass auch die Alzheimerkrankheit durch ein Defizit von nikotinergen Rezeptoren charakterisiert wird.

Einer der bedeutendsten Beiträge von Jean-Pierre Changeux als Theoretiker war die Synthese von Prozessen, die von der Schicht der Moleküle und Zellen bis hin zu den höchsten kognitiven Ebenen reichen. Dies hat er in seinem 1983 erschienenen Buch L’homme neuronal publiziert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jean-Pierre Changeux‘ experimentelles und theoretisches Werk in den letzten vierzig Jahren die Neurowissenschaften revolutionierte, indem er die Funktionen des Gehirns – sowohl auf zellulären als auch auf höheren Ebenen – fest mit den grundlegenden molekularen Mechanismen verbunden hat. Nach und nach kam Jean-Pierre Changeux von den allosterischen Mechanismen, die er an den regulierenden bakteriellen Enzymen entdeckt hat, zu den Rezeptoren der Neurotransmitter. Er identifizierte den ersten Rezeptor des Neurotransmitters Acetylcholin. Dank der von ihm ermittelten strukturellen Daten des Proteins des nikotinergen Azetylcholin-Rezeptors, dessen Bindungsstellen, dem Ionenkanal und seinen Konformations-Änderungen, konnte er nachweisen, dass die kognitiven Funktionen einschliesslich des Lernens, „reward“ und Bewusstseinszustände, von diesem Protein-Rezeptor abhängen.

Auf dem Gebiet der Kognition führte die originelle Erweiterung des ursprünglich selektiven Modells auf die Epigenese der neuronalen Netze und die höheren Funktionen des Gehirns zur Inspirationsquelle für zahlreiche, sowohl theoretische als auch experimentelle Wissenschaftler.

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