Frankreich
Jean-Pierre Serre
Balzan Preis 1985 für Mathematik
Die ersten Arbeiten, die Jean-Pierre Serre auf Anhieb berühmt gemacht haben, betrafen die Anwendungen der Homologie auf die Homotopie. Um die Homotopiegruppen gewisser gewöhnlicher Räume (beispielsweise der Sphären) zu berechnen, kam ihm die kühne Idee, unendlich-dimensionale Hilfsräume zu benützen (Schleifenräume, Eilenberg-Mac Lane-Komplexe) und ad sie homologische Methoden anzuwenden. Es handelte sich vor allem darum, die «richtigen» Faser-Räume zu definieren und auf diese, mit bewundernswerter Geschicklichkeit, homologische Techniken anzuwenden, die zu jenem Zeitpunkt völlig neu waren. Er hat ebenso das Lokalisationsverfahren erfunden, das darin besteht, eine gegebene Klasse von abelschen Gruppen zu vernachlässigen, und er schuf somit die Grundlagen zur Theorie des rationalen Homotopietyps.
Er hat zunächst auf dem Gebiet der analytischen Geometrie zur kohomologischen Interpretation der Ergebnisse von Henri Cartan über kohärente analytische Garben beigetragen, dann zusammen mit ihm den grundlegenden Endlichkeitssatz der Kohomologie für den kompakten Fall bewiesen und schliesslich die Theorie der Steinschen Räume auf den projektiven Fail übertragen. Danach wandte er dieselben Methoden auf die «abstrakte» algebraische Geometrie an. Somit erneuerte er vollständig die Grundlagen dieser Wissenschaft und öffnete den Weg zu den Arbeiten von Grothendieck. Seine bemerkenswerte Kühnheit bestand hier darin, die Methoden der algebraischen Topologie auf nicht-Hausdorffsche Räume (mit der Zariski-Topologie versehene algebraische Varietäten) anzuwenden, was mit beträchtlichen technischen Schwierigkeiten verbunden war. Im Bereich der Kohomologie der algebraischen Varietäten bleiben die grundlegenden von ihm erziehen Ergebnisse unentbehrliche Hilfsmittel.
Seine neueren Beiträge zur Zahlentheorie sind ebenfalls außerordentlich vielfältig und wegweisend. Einige wenige weitere Bereiche, die durch sein Schaffen bereichert wurden, sind die «geometrische» lokale Klassenkörpertheorie, die Galois-Kohomologie (hier bleibt seine veröffentlichte Vorlesung das Standardwerk), arithmetische Gruppen und ihre Kohomologie (Anlass zu einem fruchtbaren Abstecher ins Gebiet der Theorie der diskreten Gruppen und deren Wirkung auf Bäumen), Punkte endlicher Ordnung ad elliptischen Kurven und 1-adische Darstellungen, Modulformen, «effektive» asymptotische Formeln im Bereich der analytischen Zahlentheorie, Punktenzahl algebraischer Kurven auf endlichen Körpern, usw. Über ihre eigentliche Bedeutung hinaus bildeten seine Beiträge zu all diesen Fragen den Ausgangspunkt für bemerkenswerte Weiterentwicklungen.
Jean-Pierre Serres mathematisches Gedankengut geht weit über seine Veröffentlichungen hinaus: Er hat auf Dutzende von Mathematikern aus der ganzen Welt durch persönliche Kontakte seinen Einfluss ausgeübt, und nicht mehr zu zählen sind die oft sehr wesentlichen, durch «Serre-Fragen» angeregten Arbeiten. Schliesslich sind sein weltweit als richtungweisend geltendes Darstellungstalent und die Eleganz seines Stils so herausragend, dass sie allein einen wichtigen Beitrag zur mathematischen ‘Wissenschaft bedeuten.