Dankesrede – Rom, 23.11.2018 (Video + Text)

Deutschland

Jürgen Osterhammel

Balzan Preis 2018 die Globalgeschichte

Für seine grundlegenden Beiträge zur Globalgeschichte und zu ihrer Definition als eigene Teildisziplin; für seine Methodik, die in einer bewundernswerten Ausgewogenheit strenge empirische Forschungen und umfassendere Perspektiven vereint, so etwa komparative Ansätze oder die Erforschung vernetzter Geschichten; für seinen eleganten und faszinierenden Schreibstil.


Hochverehrter Herr Staatspräsident,
sehr geehrte Mitglieder der Balzan-Stiftung,
sehr geehrte Damen und Herren!

Seit langer Zeit verfolge ich die Ausschreibung der Premi Balzan. Es ist Jahr für Jahr lehrreich zu sehen, welche Fachgebiete die Stiftung als preiswürdig identifiziert. Etablierte Felder rücken in ein neues Licht, und man wartet darauf zu erfahren, was in ihnen Innovatives geschieht. Junge Wissenschaftszweige werden durch die Aufmerksamkeit einer renommierten Stiftung öffentlich und international aufgewertet.

Selbstverständlich habe ich mich auch für die Preisträgerinnen und Preisträger interessiert und beobachtet, wer in diesen exklusiven Club aufgenommen wird. Dass ich selbst jemals dazu gehören könnte, habe ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Nun ist dies Unvorstellbare geschehen. Ich danke der Jury und der Stiftung auf das herzlichste für ihre überraschende Entscheidung.

Es freut mich, den Preis hier in Rom entgegennehmen zu dürfen. Stets habe ich die höchste Achtung vor der italienischen Wissenschaft gehabt. Eines meiner Gebiete außerhalb der Globalgeschichte ist die europäische Aufklärung. Im letzten Jahr habe ich ein älteres Buch über die Aufklärung und Asien für eine amerikanische Ausgabe revidiert. Dabei habe ich erneut die gründlichen und originellen Forschungen italienischer Gelehrter bewundern gelernt. Auch auf anderen Gebieten, für die ich mich interessiere, etwa der Geschichte politischer und sozialer Ideen, sind diese Forschungen erstrangig und unentbehrlich.

Aber den Preis bekomme ich für Globalgeschichte oder, genauer, global history, denn dieser Begriff ist im Englischen geprägt worden. Was ist das für eine seltsame Art der Geschichtsbetrachtung? Ist es eine überhebliche Geschichte von Allem? Oder ein Super-Wissen von der Vergangenheit, das alle nationalen Geschichten, wie es sie überall gibt, auflöst und miteinander verschmelzt? Oder ist es eine Fortsetzung der alten Geschichtsphilosophie, also die etwas suspekte Suche nach geheimen Formeln für die Grundmuster historischer Bewegung?
Nach meinem Verständnis ist Globalgeschichte etwas viel Bescheideneres. Sie ist sogar eine Art, Fragen an die Vergangenheit zu richten, für die man nicht unbedingt Experte sein muss. Globalgeschichte liegt uns allen deshalb sehr nahe, weil wir unsere Gegenwart als eine Summe weltweiter Interdependenzen erfahren und interpretieren, anders gesagt: als ein Bündel von Globalisierungen.
In mancher Hinsicht ging es schon Eugenio Balzan ähnlich. Er würde die heutigen Fragestellungen der Globalgeschichte sofort verstehen. Sein Bruder war Forschungsreisender in Südamerika. Als junger Reporter hat Eugenio die italienische Emigration nach Übersee gründlich recherchiert und ist zu diesem Zweck in die Neue Welt gereist. Migration, besonders über große Entfernungen und kulturelle Grenzen hinweg, ist heute ein zentrales Thema von global historians in vielen Ländern der Welt. Als Verantwortlicher für den Corriere della Sera hat der Commendatore Balzan ein weltweites Netz von Auslandskorrespondenten aufgebaut. Die Berichte einiger Korrespondenten des Corriere sind heute wichtige Quellen der Globalgeschichte. Man denke nur an die Reportagen von Luigi Barzini (senior) aus Ostasien, etwa vom Boxer-Krieg in China im Jahre 1900, und von vielen anderen Schauplätzen des Planeten.

Eugenio Balzan war Zeuge, wie im Zeitalter der Telegraphie und des Grammophons erstmals kultureller Weltruhm entstand. Der alte Giuseppe Verdi und später Balzans Freund Arturo Toscanini waren musikalische Weltstars – ein Phänomen, über das ich ein wenig gearbeitet habe. Schließlich: Eugenio Balzan verbrachte den letzten Abschnitt seines Lebens im Ausland, zwar nicht offiziell als Emigrant, aber doch unter dem Schutz fremder Souveränität. Dieser Typ von Schicksal ist ein wichtiges und noch viel zu wenig untersuchtes Thema der Globalgeschichte. Vor allem das 20. Jahrhundert kann man nicht begreifen, wenn man übersieht, dass es ein Jahrhundert der Flucht, der Heimatlosigkeit und des Exils gewesen ist. Das gilt ausnahmslos für alle Kontinente.

Die Globalgeschichte ist teils ein neues Produkt der Zeit universaler Vernetzung und Digitalisierung, teils steht sie in einer ehrwürdigen Tradition, denn sie knüpft an die alte Weltgeschichte an. In manchen Ländern (aber keineswegs überall) hat sie sich heute als eine Unterdisziplin der Geschichtswissenschaft semi-autonom etabliert. Gleichzeitig muss sie aufpassen, dass ihr das Schicksal vieler Sub-Disziplinen erspart bleibt: sich zu isolieren. Dann funktioniert zwar ihr interner Betrieb, aber sie verschwindet in einer Nische und verliert die Verbindung zur Geschichtswissenschaft insgesamt und zum breiten Publikum.

Um dies zu vermeiden, möchte ich weiter daran arbeiten – und dafür die neuen Möglichkeiten nutzen, die mir der Balzan Preis großzügig verschafft –, dass die Frage nach globalen Interdependenzen in möglichst vielen Zusammenhängen gestellt wird. Manchmal wird man allerdings zu einem wenig überraschenden Ergebnis kommen: Für die Analyse bestimmter historischer Probleme bleibt der regionale oder der nationale Rahmen weiterhin besser geeignet. Dagegen ist nichts einzuwenden. Globalgeschichte ergänzt Nationalgeschichte; sie tritt nicht an ihre Stelle.

Hingegen ist sie ein Gegenentwurf zu jeder nationalistischen Geschichtsschreibung. Sie unterminiert alle Ansprüche auf nationale Exklusivität und Überlegenheit. Deshalb kann man Globalgeschichte nicht betreiben, ohne Kosmopolit zu sein, am besten ein kritischer, ein nicht zu naiver Kosmopolit. Auch dies hätte Eugenio Balzan vermutlich ähnlich gesehen.

Ich danke nochmals für den großartigen Preis, den es ohne ihn und die Stifterin, seine Tochter Lina Balzan, nicht gäbe.

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