Deutschland
Balzan Preis 1993 für Geschichte: Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts
Dankesrede – Bern, 19.11.1993
Herr Bundesrat,
Meine Herren Präsidenten und Mitglieder der Stiftungsorgane der Balzan-Stiftung, Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Am Anfang eines jeden Balzan-Preises steht die Wahl eines speziellen Gebietes aus dem breiten Spektrum der Wissenschaften durch den Stiftungsrat; das ist, wenn ich recht sehe, neben der Internationalität das Besondere, das Charakteristische Des Balzan-Preises. Der individuelle Preisträger steht also zugleich für allgemeine Entwicklungen und Tendenzen der Wissenschaft, die die Stiftung für besonders interessant, bedeutsam und vielversprechend ansieht. Daraus ergibt sich die Erwartung, dass der jeweilige Preisträger nicht nur, wozu es ihn natürlich drängt, seiner Freude und seinem Dank über die grosse Auszeichnung und Ehre Ausdruck gibt, sondern etwas aus seiner Sicht über jenes Gebiet sagt und über die Richtung, die er auf ihm verfolgt.
In meinem Fall ist dieses Gebiet die Geschichte, die Entwicklung der Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Es ist dies ein Gebiet, ein wissenschaftliches Feld, das erst spät die gebührende Aufmerksamkeit der Historiker gefunden hat. Das hatte viele Gründe. Es hing zusammen mit der herkömmlichen Konzentration vieler Historiker auf die politische Geschichte im engeren Sinne, auf die Geistesgeschichte, auf die Geschichte grosser Einzelner und auf die jeweilige Nationalgeschichte, verstanden als Geschichte von Kollektivindividuen. Es hatte auch mit der Schwierigkeit des Vorcomputerzeitalters zu tun, mit den grossen Quellenmassen fertig zu werden, die auf diesem Gebiet zu bewältigen sind. Schliesslich und nicht zuletzt spielte aber noch etwas anderes eine Rolle: Kein Forschungsgegenstand, so schien es vielen Historikern, war so ideologieanfällig wie die Beschäftigung mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Sie war, wo sie zunächst vor allem von Sozialphilosophen, Nationalökonomen und politischen Publizisten betrieben wurde, vielfach Gesellschaftskritik mit anderen Mitteln, erschien also wesentlich bestimmt von ausserwissenschaftlichen Antrieben und Zielsetzungen.
In der Tat schlug das gesellschaftskritische Element dann auch bei der Themenwahl sehr deutlich durch – sei es in Orientierung an einer idealisierten Vergangenheit, sei es aus der Perspektive einer utopisch überhöhten Zukunftserwartung. Hier standen die angeblich geborenen Vertreter des Fortschritts, vor allem die Industriearbeiterschaft, das Proletariat, die Arbeiterbewegung im Zentrum der Betrachtung und er Untersuchungen, dort die Bauern, die Handwerker und auch der Adel.
Das hat den weiteren Gang der Forschung und besonders der sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer breiter entfaltenden sozialhistorischen Forschung im engeren Sinne in starkem Masse bestimmt, vor allem was die Erforschung der Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung angeht. Hingegen bildete die eigentlich dynamische Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten zweihundert Jahre, nämlich das Bürgertum, lange Zeit hindurch ein Stiefkind dieser Forschung. Wer sich mit ihm beschäftigte, galt vielerorts als ein bedenklicher Verteidiger des status quo, wenn nicht gar als Wortführer des gesellschaftlichen Ruckschritts. Das hat sich in den letzten Jahren auf breiter Front geändert. Geradezu weltweit beginnt man die entscheidende Rolle, die das europäische Bürgertum politisch und gesellschaftlich, kulturell und ökonomisch bei der Entstehung der modernen Welt, der modernen Gesellschaft gespielt hat und weiterhin spielt, neu zu entdecken und zu würdigen.
Im einzelnen steckt die Forschung dabei noch sehr in den Anfangen. Der mächtige Anstoss, den ihr der französische Historiker Ernest Labrousse, einer der Preisträger der Balzan-Stiftung, mit einem grossen Vortrag auf dem internationalen Historikertag 1956 in Rom gegeben hat, ist in vielem bis heute noch Programm. Aber es zeichnet sich doch auf zahlreichen Gebieten bereits ein reicher Ertrag ab, der auch die fortwirkende innere Dynamik des Bürgertums, der sogenannten bürgerlichen Bewegung immer deutlicher erkennen lässt und mit ihr zugleich die Fülle der noch uneingelösten Versprechungen auf dem Weg zu einer wahren bürgerlichen Gesellschaft, einer vollentwickelten „civil society“.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine letzte Bemerkung! Wie gross, vom sogenannten Westen Iange Zeit unterschätzt, diese Dynamik, die Leuchtturmwirkung jener Versprechungen nach wie vor ist, hat das Jahr 1989 aller Welt vor Augen geführt. Von ihm wird, so lässt sich unschwer voraussehen, ein zusätzlicher Impuls für die weitere Erforschung der Geschichte des europäischen Bürgertums als eines der, vielleicht des entscheidenden Zentrums der Entwicklung der modernen Gesellschaft ausgehen. Sie haben, verehrte Mitglieder des Preiskomitees, meinen eigenen kleinen Beitrag zur Erforschung dieses grossen Feldes in so freundlicher Weise und, so verstehe ich es, zugleich stellvertretend ausgezeichnet. Ich empfinde diese Auszeichnung nicht nur als grosse Ehre, sondern vor allem auch als Anstoss und Ermutigung für mich und andere, in dieser Richtung weiter voranzuschreiten.