Deutschland
Balzan Preis 2006 für Geschichte der abendländischen Musik seit 1600
Eine Synthese meiner Forschung – Rom, 23.11.2006 Forum
Als Musikwissenschaftler – genauer: als Musikhistoriker, denn nur für diesen Zweig des Faches kann ich mich einigermassen kompetent fühlen – bin ich das Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und einer Reihe von glücklichen Zufällen. Ich bin in einer Mittelstandsfamilie aufgewachsen, in der Musik, wo vor allem das eigene Musizieren am Klavier, zum kulturellen Haushalt gehörte; so wuchs ich, hörend, in die Tradition der europäischen Kunstmusik hinein, auch wenn ich selbst kein Instrument spielen konnte. Sehr bald drängte sich mir, aus reiner Neugier, die Frage auf, was es mit dieser Musik, die mich so stark bewegte, auf sich hatte – wie sie funktionierte, was sie entstanden war, was alles es in ihr zu entdecken gab. Die Neugier auf Unbekanntes bleibt ein wesentlicher Antrieb meiner Arbeit.
Als ich zu studieren begann, wollte ich Musikjournalist werden, aber hier begann die Kette der glücklichen Zufälle. Göttingen war die geographisch nächstliegende Universität und hier fand sich im Musikwissenschaftlichen Seminar ein Lehrer, Rudolf Gerber, der seine Schüler unnachgiebig zur intellektuellen Redlichkeit und zum methodisch kontrollierten Umgang mit den Quellen der Musikgeschichte erzog. Und unter diesen Schülern war eine Gruppe von ungewöhnlich Begabten, die später eine ganze Reihe von musikwissenschaftlichen Lehrstühlen besetzen und das Fach wesentlich prägen sollten: Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan in Berlin, Gerhard Croll in Salzburg, Paul Brainard an der Brandeis University, und Joachim Kaiser, der das wurde, was zu werden ich träumte: der wortmächtigste und einflussreichste Musikkritiker des deutschen Sprachraums. An diesen Kreis Anschluss zu finden, war ein gänzlich unverdientes Glück, und der Umgang mit diesen Persönlichkeiten hat mich menschlich und fachlich tief beeinflusst. Gerhard Croll verdankte ich das Thema meiner Doktorarbeit über einen Komponisten aus der Generation Josquins des Prez, also um 1500, und damit war der erste Schwerpunkt meiner Arbeit gesetzt, die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts, zu der ich immer wieder zurückkomme. Damals gab es an deutschen Universitäten noch keinen Druckzwang für Dissertationen, aber ich wollte die Arbeit veröffentlichen, vermutlich aus Eitelkeit, aber vielleicht auch, weil es eine der ersten Monographien über einen Komponisten dieser Zeit war. Als sich kein deutscher Verleger fand, übersetzte ich sie ins Englische, und es fand sich – wieder ein glücklicher Zufall – ein Mäzen in den USA.
Unter den damals fast paradiesischen Bedingungen des Arbeitsmarktes für Geisteswissenschaftler fand ich sofort nach der Promotion eine Stelle, wenn auch nur für ein Jahr, und das war der dritte Glücksfall. In Freiburg wurde ich Assistent von Walter Wiora am Deutschen Volksliedarchiv, und Wiora war das Gegenteil meines ersten Lehrers: ein unruhiger Geist, ein philosophischer und gern auch spekulativer Kopf, viel mehr Historiker mit universalhistorischen Perspektiven als Musiker, dazu Musikethnologe und Musiksoziologe. Ihm verdanke ich den Blick auf die Strukturen des europäischen Musiklebens und über Europa und die Grenzen des Faches hinaus, das Korrektiv gegen meine Neigung, aus Neugierde zum musikhistorischen Jäger und Sammler zu werden und die Einsicht in die unendlich vielfältige Verknüpfung des musikalischen Kunstwerks mit den verschiedensten Lebenszusammenhängen. Und Wiora verdanke ich, dass ich nun doch in der Universität blieb: er holte mich als Assistenten nach Kiel, als er 1960 dort den musikwissenschaftlichen Lehrstuhl übernahm; als er nach Saarbrücken wechselte, folgte ich ihm und habilitierte mich dort 1967. Wioras theoretisches und forschungspraktisches Interesse an der musikalischen Gattungsgeschichte regte mich zur Wahl meines Habilitationsthemas an: einer Geschichte der Entstehung der Gattung Streichquartett bis zur Formulierung eines zukunftsträchtigen Gattungs-Modells durch Joseph Haydn. Damit hatte ich den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt meiner Arbeit gefunden, die Musik der Wiener Klassik, und zugleich einen methodologischen Fokus, die Gattungsgeschichte. Beide haben mich seitdem begleitet und werden mich, so hoffe ich, noch ein Wegstück weiter begleiten.
Sehr schnell nach der Habilitation trug mich wieder der Zufall weiter: der Lehrstuhl im benachbarten Frankfurt am Main war vakant, die Berufungskommission hatte sich scheinbar aussichtslos zerstritten – nun erschien plötzlich ein junger Kollege, der in den Beratungen noch nicht abgenutzt war und gegen den beide Parteien kaum Einwände hatten. So bekam ich 1968 den Frankfurter Lehrstuhl. Seitdem habe ich, in Frankfurt und danach in Heidelberg, dazu bei kürzeren Gastspielen vor allem in Australien, Musikwissenschaft gelehrt, und selbst im Jahr der Studentenrevolution 1968, erst recht in den vielen Jahren danach, habe ich von meinen Studenten mindestens so viel gelernt wie die Studenten von mir.
Zwischen den Polen der Musik des 15. und 16. Jahrhunderts einerseits und der Wiener Klassik andererseits und der Interpretation des musikalischen Kunstwerks einerseits und der Kornpositionsgattungen andererseits hat sich das entwickelt, was man gern ein Lebenswerk nennt und was gegen Ende der Laufbahn doch viel eher als eine Sammlung von Fragmenten erscheint. Dabei hat die Kompositionsgeschichte immer im Vordergrund gestanden, aber ich habe mich auch immer bemüht, die externen Faktoren – Institutionengeschichte, Sozialgeschichte, Geschmacks- und Ideengeschichte – in die Interpretation des Werkes einzubeziehen. Zugleich habe ich das musikalische Kunstwerk stets als eine ästhetische Struktur verstanden, die einerseits ein auf innere Logik und Geschlossenheit – auf musikalischen Sinn – zielendes Gebilde ist, die aber andererseits wesentliche Elemente musikgeschichtlicher Entwicklungen, in einem bestimmten historischen Moment, in sich verarbeitet – bildlich gesprochen, das Kunstwerk als Stimme im unendlichen und vielstimmigen Gespräch der Komponisten untereinander, einem Gespräch über das Komponieren, im Medium des Werkes. Von diesem Konzept aus ist der Weg nicht weit zur Gattungsgeschichte, die ich seit meiner Habilitationsschrift über Haydns „Erfindung“ des Streichquartetts immer wieder studiert habe. Heute wie damals fasziniert mich die Kontinuität im Wandel, die in Kompositions-Gattungen oft über erstaunlich lange Zeiträume und über eingreifende stilgeschichtliche Wandlungen, ja Umbrüche hinweg zu beobachten ist: im Streichquartett, aber ebenso in der Symphonie oder in der Triosonate und auch in Gattungen der Vokalmusik wie der Messe oder der Madrigal. Noch mehr hat mich die Frage fasziniert, wie musikalische Gattungen entstehen: idealtypisch aus vielgestaltigen, und deshalb fruchtbaren, Konstellationen von stilgeschichtlichen Möglichkeiten, aus denen eine Gruppe von Merkmalen zu einer neuen Konstellation zusammengeführt wird, und zwar durch einen einzigen Komponisten oder eine (in einer Art von musikalischem Laboratorium arbeitende) eng zusammenhängende Komponisten-Gruppe, im historisch fruchtbaren Moment, auf der Grundlage von gesellschaftlich akzeptierten Musizier-Situationen und mit grösster ästhetischer Überzeugungskraft. Das klingt sehr abstrakt, wird aber konkreter, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele stilgeschichtliche Paradigmata und Entwicklungen von Haydn bei seiner Arbeit am Streichquartett aufgegriffen, ausgewertet und zu einer neuen Gestalt transformiert wurden: der vierstimmige Satz als ein durch geschichtliche Tiefe beglaubigtes Tonsatzmodell, der neue, melodiebetonte und harmoniegestützte Stil des mittleren 18. Jahrhunderts, der solistische Satz für Streichinstrumente, die Konzertsymphonie, die Lied- und Tanztradition, aus der der Komponist kam. Die Rede von der „Erfindung“ des Streichquartetts durch Haydn oder der „Erfindung“ der Triosonate – hier in Rom – durch Arcangelo Corelli oder der „Erfindung“ des Streichquintetts durch Mozart ist eine Vereinfachung, trifft aber doch einen Kern.
Das Model der Gattungsgeschichte hat seine Mitte in den Meisterwerken, aber es geht nicht in ihnen auf, und ihr Status als Meisterwerke wird umso deutlicher, je genauer man sie vor dem Hintergrund der ästhetisch weniger erheblichen Produktion siebt – wobei letztere natürlich keineswegs künstlerisch belanglos sein muss und im heutigen Musikleben, unter allgemeinem Beifall, eine entsprechend grosse Rolle spielt: Komponisten wie Luigi Boccherini wären für uns überragende Meister, hätten sie nicht das Unglück gehabt, Zeitgenossen Mozarts und Haydns zu sein (und wir wären durchaus glücklich mit ihnen). Ein zweiter Aspekt ist, dass Gattungsgeschichte, wie schon gesagt, nur über längere Zeiträume funktioniert. Aus beidem ergab sich, dass ich die Grenzen meiner Arbeit schon früh erweitert habe, zurück zur Vorgeschichte der jeweiligen Gattung und vorwärts zur Entfaltung eines Gattungszusammenhangs in der Auseinandersetzung mit dem vom Gattungsgründer geschaffenen Modell, also im Fall des Streichquartetts zurück zur Situation um 1730 (etwa in Mailand im Kreis um Giovanni Battista Sammartini) und vorwärts bis zur Gegenwart. Aber auch unabhängig von solchen gleichsam genealogischen Zusammenhängen bleibt das Werk der grossen Komponisten für jeden Musikhistoriker eine Herausforderung, der er sich immer wieder stellen muss, schon um an seinem Verhältnis zu den Meisterwerken die im allgemeinen kulturellen Wandel ständig sich ändernden Perspektiven der Werkinterpretation zu prüfen. So habe ich nicht aufgehört, mich, aus immer anderen Blickwinkeln, auch mit Bach und Händel, mit Brahms, Bruckner und Schönberg auseinanderzusetzen. Wiederum unabhängig davon habe ich aber die von Neugier getriebene Tätigkeit des musikhistorischen Sammlers und Jägers keineswegs aufgegeben, sondern über sie weiter im Versuch, auch den Platz kleinerer Meister in der Musikgeschichte genauer zu bestimmen.
Aus alledem hat sich zweierlei ergeben. Erstens: ich habe Aufsätze zu den verschiedensten Themen und aus ganz verschiedenen Epochen der Musikgeschichte geschrieben, aber ich bin kein Mann der dicken Bücher geworden – die Fragestellungen waren zu verschieden und zu detailbezogen für grosse Entwürfe – und ich habe mich nie an den methodologischen Debatten beteiligt, durch die sich so viele Musikwissenschaftler der konkreten historischen Arbeit entfremdet haben – statt dessen habe ich darauf vertraut, dass die methodischen Prämissen am Einzelfall hinreichend deutlich werden. Mit den zwei tatsächlich umfangreichen Entwürfen – der handbuchartigen Darstellung der Musikgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts und der Monographie über Joseph Haydn – habe ich Ziele verfolgt, die demonstrativ abseits der historiographischen Trends liegen: die beiden Bände über das 15. und 16. Jahrhundert sind in ihren kompositionsgeschichtlichen Teilen ein Versuch, das Konzept der Gattungsgeschichte für einen Zeitraum fruchtbar zu machen, in dem es bis dahin kaum eine Rolle gespielt halte, und das Buch über Haydn entwirft das Bild eines Komponisten, dessen Leben (obwohl es reich dokumentiert ist) als fast belanglos gegenüber dem Werk und als fast unverbunden mit ihm erscheint, einem Werk, das mit einzigartiger Konsequenz der systematischen Entwicklung einer neuen kompositorischen Sprache und von dieser Sprache getragener musikalischer Gattungen – Streichquartett und Symphonie – gewidmet war.
Zweitens: als ich Ende der 1980er Jahre eingeladen wurde, eine zweite, völlig revidierte Ausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart zu leiten, war das auch eine Folge des Rufes der Vielseitigkeit, den ich mir erworben hatte. Ich nahm die Einladung an, nicht ahnend, dass diese Arbeit bis heute den grössten Teil meiner Arbeitskraft absorbieren würde. Dass das Unternehmen überhaupt gelingen konnte, ist vor allem der Einsatzfreude und Arbeitskraft einer kleinen, aber hochmotivierten Redaktion zu verdanken, die es verstanden hat, viele Hunderte Mitarbeiter aus aller Welt zu motivieren und zu aktivieren. Einige meiner Ideen habe ich auch hier verwirklichen können, vor allem mit einem starken Akzent auf der Gattungsgeschichte, aber auch mit der Revision des bisherigen Bildes einer ganzen Reihe sogenannter „kleinerer“ Komponisten; dafür habe ich, neben der redaktionellen Arbeit, bei der ich jeden der Tausende von Artikeln gelesen habe, eine grosse Zahl von umfangreichen Gattungs- sowie grösseren und kleineren Personenartikeln geschrieben. Die Enzyklopädie wird im kommenden Jahr abgeschlossen sein. Damit geriete ich in die Gefahr, beschäftigungslos zu werden – aber da ist ja der Balzan-Preis. Der Preis kam also zur rechten Zeit. Er wird es mir erlauben, mit einem kleinen Team noch einmal auf die Gattungsgeschichte zurückzukommen. Das Ziel ist ein umfassend kommentierter Katalog der Überlieferung der Triosonate von den Anfängen um 1650 bis zum Ende um 1780, der die Grundlagen für die bisher noch nicht geschriebene Geschichte der Gattung liefern soll. Die institutionelle Basis, auf die eine solche (auf etwa fünf Jahre zu veranschlagende) Arbeit angewiesen ist, hat sich durch die grosszügige Gastfreundschaft meines Zürcher Kollegen und ehemaligen Schülers Laurenz Lütteken im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich gefunden, wofür ich ausserordentlich dankbar bin. Schliesslich hoffe ich, dass mir noch Zeit und Kraft bleiben, um ein zweites Projekt zu verwirklichen: eine Darstellung von Mozarts Kammermusik in ihrem historischen Kontext, das heisst wiederum gattungsbezogen, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Produktion, vor dem die unvergleichliche Grösse dieser Musik besser verstehbar wird – auch wenn sie ein Rätsel bleibt.