Brauneck antwortet über sein Forschungsprojekt 03.07.2013
Deutschland
Manfred Brauneck
Balzan Preis 2010 für Geschichte des Theaters in all seinen Ausdrucksformen
Für seine umfassende Darstellung von zweieinhalb Jahrtausenden europäischer Theatergeschichte sowie für seine Forschungen über Strömungen und Fakten weltweiter Ausprägungen theatralischer Aktivitäten.
Die Rolle der Freien Theater im europäischen Theater der Gegenwart: strukturelle und ästhetische Veränderungen
In diesem Interview spricht Manfred Brauneck, Balzan Preisträger 2010 für die Geschichte des Theaters in all seinen Ausdrucksformen, über zahlreiche Themen, die sein Balzan Forschungsprojekt fokussiert
Im Zentrum Ihrer Forschung steht das Freie Theater. Was untersuchen Sie und Ihre Kollegen bei diesem Projekt genau?
Wir untersuchen die kreativen Impulse, die von dieser Theatersphäre ausgehen, im Kontext der Theaterkulturen und der Strukturen des Theaterwesens in nahezu allen europäischen Ländern. Eine so umfassende aktuelle Untersuchung ist bislang noch nicht durchgeführt worden. Sie wurde ausschließlich durch die Förderung der Internationalen Balzan Stiftung ermöglicht.
Neben einer nach Ländergruppen strukturierten Übersicht über Funktionen, Arbeitsbedingungen, künstlerische und theaterpolitische Positionierungen dieser Theatersphäre in den einzelnen Ländern sind folgende Teilstudien Schwerpunkte unserer Untersuchung: der transnationale Austausch der Unabhängigen, Freien Theatergruppen (die Begriffe wechseln in den einzelnen Ländern); die Entwicklung dieser Theatersphäre in den postsozialistischen Ländern nach dem Umbau von deren Theaterwesen; das Kinder- und Jugendtheater; künstlerische Arbeitsweisen und theoretische Konzepte der Freien zeitgenössischen Tanz- und Performancekunst; Theater und Migration in Europa. Querschnittsthemen zu diesen Schwerpunkten sind die Bereiche Freies Musiktheater, Theater und Kulturpolitik in Europa unter besonderer Berücksichtigung des Freien Theaters. Der zeitliche Rahmen unserer Untersuchung erfasst die Jahrzehnte von etwa 1990 bis zur Gegenwart.
Welche Bedeutung hat Ihr Projekt für das europäische Theater?
Unsere Untersuchung wird deutlich machen, dass das Freie Theater längst ein fester Bestandteil der europäischen Theaterkultur ist, keineswegs mehr eine Randerscheinung oder eine Spielart der Subkulturen. Es wird deutlich werden, dass das Verständnis von Theaterkultur sich durch die Arbeit des Unabhängigen Theaters wesentlich verändert, vor allem erweitert hat. Und zwar in der Richtung, dass das Theater näher an die realen Lebensverhältnisse der Menschen herangerückt ist. Dies betrifft nicht nur die Themen, die das Freie Theater aufgreift, sondern auch die experimentelle Dynamik und nicht zuletzt die künstlerischen Vermittlungsformen, die vor allem einem jungen Publikum entgegenkommen.
Bitte beschreiben Sie aktuelle Fortschritte des Projekts.
Die Untersuchung ist weitgehend abgeschlossen. Wir haben in den vergangenen drei Jahren jeweils drei mehrtägige Kolloquien abgehalten, in Hamburg, Hildesheim, Berlin und Leipzig, mehrfach im Zusammenhang mit Festivals der Freien europäischen Theaterszene. Zu den Kolloquien waren jeweils Wissenschaftler und Künstler aus den Bereichen unserer Schwerpunkte eingeladen. Derzeit entstehen die Abschlussberichte, die von den Mitarbeitern im September fertiggestellt sein werden. Für die Koordination (etc.) dieser Abschlussberichte wurden in diesem Jahr noch zwei Kolloquien in Hamburg durchgeführt, eines mit dem Schwerpunkt Freies Musiktheater.
Welche europäischen Länder und Regionen werden in Ihrem Projekt untersucht und warum wurden diese ausgewählt?
Den Bearbeiterinnen der Schwerpunktstudien wurde es überlassen, die für ihren thematischen Bereich wichtigen Länder auszuwählen, Länder, die sich in den jeweiligen Bereichen mit besonderen innovativen Projekten profiliert haben. Für alle verbindlich war der deutschsprachige Raum, von dem die Untersuchung ausging; dazu Italien und die Schweiz. Letztere waren (auch) eine Art Reverenz an die Internationale Balzan Stiftung. Es wurde jedoch sichergestellt, dass ein repräsentativer Überblick über das Freie Theater in Europa zustande kommt. Die Untersuchungen beruhen in einem hohen Maße auf Recherchen in den jeweiligen Ländern.
Erläutern Sie bitte kurz den UNESCO „World Observatory on the Status of the Artist“ und welchen Beitrag Ihr Projekt hierzu leistet.
Die UNESCO hat alle Mitgliedsländer und Künstlerverbände gebeten, ihr bei der Sammlung statistischer Aussagen zum Status der Künstler zur Seite zu stehen und dem Observatory zuzuarbeiten; ähnlich der Umsetzung der Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Wir werden dem Observatory und der deutschen UNESCO-Kommission unsere Studie, die Ende 2014 im Druck (Deutsch/Englisch) erscheinen wird, zur Verfügung stellen; gegebenenfalls auch nicht gedruckte Recherchen, etwa Interviews und spezielle Statistiken, unserer fünf Mitarbeiterinnen.
Welche Einflüsse der Globalisierung auf das europäische Theater konnten Sie im Zuge des Projekts beobachten?
Der Begriff der Globalisierung gehört meines Erachtens in die Sphäre der Ökonomie und der Finanzwirtschaft. Was das Theater betrifft, so wird seit den 1970er-Jahren unter den Begriffen „Interkulturalität“ oder „Transkulturalität“ ein ähnliches Problem thematisiert. Gerade die Freie Theaterszene hat in diesem Zusammenhang eine Art Vorreiterrolle gespielt. Prominente Regisseure, die in ihren Anfängen dieser Theatersphäre zuzurechnen sind – Peter Brook etwa, Ariane Mnouchkine oder Eugenio Barba –, haben seit den 1970er-Jahren programmatisch die Grenzen zwischen den Kulturen „überschritten“ und im Zusammenhang solcher Transformationen neue künstlerische Ausdrucksformen entwickelt.
Welche Universitäten, Institutionen und wie viele Mitarbeitern sind an der Forschung beteiligt?
Für unsere Untersuchung wurde ein Netz unterschiedlicher Institutionen geschaffen. Die Forschungsleitung liegt bei mir. Partner ist das Internationale Theaterinstitut / Sektion Deutschland. Das ITI hat alle administrativen Aufgaben, die mit dem Forschungsprojekt verbunden sind, übernommen. Zugleich aber konnten die Vertreter des ITI, insbesondere dessen Direktor Dr. Engel, aufgrund ihrer großen internationalen „Vernetzung“ und vieler wichtiger Kontakte auch wesentlich zu allen Forschungsfragen beitragen. Kooperationsverträge wurden außerdem geschlossen mit den Theater- und Kulturwissenschaftlichen Instituten der Universitäten Berlin, Leipzig und Hildesheim. Die Schwerpunkte des Projekts wurden von fünf Wissenschaftlerinnen bearbeitet: Dr. Christine Koch (Hamburg), Friederike Felbeck (Düsseldorf/Hamburg), Dr. Petra Sabisch (Berlin), Andrea Hensel (Leipzig), Dr. Azadeh Sharifi (Hildesheim/Berlin). Außerdem sind als Mentoren für die einzelnen Schwerpunkte beteiligt: Dr. Barbara Müller-Wesemann (Hamburg), Prof. Gabriele Brandstetter (Berlin), Prof. Wolfgang Schneider und Prof. Matthias Rebstock (beide Hildesheim), Prof. Günther Heeg (Leipzig).
Wie wichtig war der Erhalt des Balzan Preises für Ihre Forschungsdisziplin?
Dass der Balzan Preis 2010 für den Bereich Theaterforschung verliehen wurde, war eine außerordentlich förderliche Entscheidung für unser Arbeitsgebiet, insbesondere im Hinblick auf die derzeitigen forschungspolitischen Präferenzen, die überwiegend doch in andere Richtungen gehen.
Welche Möglichkeiten hat Ihnen der Balzan Preis für Ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten eröffnet?
Die Durchführung unseres Forschungsprojektes wäre nicht möglich gewesen ohne die Förderung durch die Internationale Balzan Stiftung. Ich habe die Festlegung der finanziellen Forschungsförderung, die mit dem Balzan Preis verbunden ist, stets so verstanden, dass damit in erster Linie junge Wissenschaftler gefördert werden sollten; dass diese die Möglichkeit erhalten, in einem wichtigen Arbeitsgebiet längerfristig zu forschen und sich als Wissenschaftler zu profilieren.
Zu einem Zeitpunkt in Ihrer Karriere, zu dem andere Wissenschaftler bereits in den verdienten Ruhestand gehen, haben Sie mit diesem Projekt eine enorme Aufgabe angenommen. Was bedeutet dieses Projekt für Sie persönlich? Die Vorstellung von Ruhestand ist mir fremd. Dazu bin ich zu sehr an meinem Forschungsgebiet engagiert und zudem mit Publikationsverpflichtungen gebunden. Außerordentlich anregend empfand ich die Zusammenarbeit mit den jungen Forscherinnen und allen jenen Kollegen und Künstlern, die wir zu unseren Kolloquien eingeladen hatten. Dass ich mich bei der Festlegung auf dieses Forschungsthema für das Freie Theater entschieden habe, war für mich auch eine Art „Rückkehr“ zu den Anfängen meiner Arbeit an der Universität Hamburg. PR&D
Wien