USA
Philip V. Bohlman
Balzan Preis 2022 für Ethnomusikologie
Philip Bohlmans vielseitige und produktive Arbeit umfasst Forschung, Lehre, Betreuung, Herausgebertätigkeit, Übersetzungen und Aufführungen. Sein vielseitiges und umfassendes Werk setzt sich über Raum und Zeit hinweg mit Musik und Kultur auseinander, wie sie individuell und in der Begegnung mit anderen erfahren werden. Er hat Feld- und Archivforschung in Mittel- und Osteuropa, in Israel, Indien und in der jüdischen Diaspora der Vereinigten Staaten betrieben. Der amerikanische Musikethnologe ist Ludwig Rosenberger Distinguished Service Professor in Jewish History, Music and the Humanities in the College der University of Chicago, wo er auch assoziiertes Mitglied der Divinity School ist. Darüber hinaus hat er in Deutschland an der Universität Hildesheim und der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover gelehrt, wo er auch Honorarprofessor ist. Durch seine Forschung, Lehr- und Übersetzertätigkeit sowie seine Arbeit als Berater für akademische Institutionen in den Vereinigten Staaten und Europa hat er dazu beigetragen, Kommunikations- und Kooperationskanäle zwischen Musikethnologen und Institutionen auf beiden Seiten des Atlantiks zu schaffen.
Er bedient sich eines multidisziplinären Ansatzes, bei dem sich Ethnographie, historische Forschung und Musikaufführung überschneiden, um in seinen Veröffentlichungen die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzung von Musik zu untersuchen, wie den Beitrag des Nationalismus zum Wesen der europäischen Musik in Vergangenheit und Gegenwart, das Verhältnis von jüdischer Musik und Moderne, Musik, Rasse und Kolonialismus, Musik und Religion, sakrale Musik und die europäische Moderne sowie die Geschichte der Volksmusikforschung und der Ethnomusikologie. Als künstlerischer Leiter der New Budapest Orpheum Society fördert er die historische Aufführung jüdischer Kabarett- und Filmmusik.
Philip Bohlman hat zahlreiche Publikationen auf Englisch und Deutsch veröffentlicht. Eine seiner wichtigen Monografien, Music, Nationalism, and the Making of the New Europe (2011), wurde in ihrer zweiten Auflage mit dem Derek Allen Prize for Musicology der British Academy ausgezeichnet. Darin untersucht er den Zusammenhang von Musik und Nationalismus in Europa in Vergangenheit und Gegenwart, wobei er sich auf verschiedene Gattungen schriftlicher und mündlich oder akustisch überlieferter Musik stützt, darunter Volksmusik, populäre Musik, religiöse Musik und Kunstmusik. Er arbeitet die Unterschiede zwischen nationaler und nationalistischer Musik heraus und beleuchtet ihre positiven oder negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft in verschiedenen Regionen Europas. Das Buch befasst sich mit einem breiten Spektrum historischer und zeitgenössischer Themen, musikalischer Genres und Praktiken und legt dar, wie Nationalismus der Schlüssel zum Verständnis der europäischen Musik ist.
Er hat auch einen bahnbrechenden Beitrag zum kritischen Studium der jüdischen Musik in Vergangenheit und Gegenwart geleistet. Sein Buch Jewish Music and Modernity (2008), der letzte Band einer Trilogie, erforscht die dynamische Antwort der jüdischen Musik auf die Herausforderungen der Moderne. Es konzentriert sich auf verschiedene Grenzregionen Mittel- und Osteuropas, von der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert bis zur Vernichtung des europäischen Judentums im Holocaust und untersucht die verschiedenen musikalischen Traditionen in jüdischen Dörfern und auf den Bühnen moderner Städte. Philip Bohlman argumentiert, dass jüdische Musik eine hybride Mischung aus manchen musikalischen Genres, Stilen und Repertoires aus verschiedenen Sprachen ist. Kritisch diskutiert er, wie das Gedächtnis jüdischer Musik eine eigene Ontologie erlangt, erörtert die jüdische Musiksammlung und die Auswirkungen des Judentums auf die Musik sowie der jüdischen Musik auf die Modernität. Seine intellektuelle Führungsrolle und seine Fähigkeit, das Interesse von Wissenschaftlern für neue Fragen und Themen in der Musikforschung zu erwecken und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern zu fördern, zeigt sich nicht zuletzt in seiner umfangreichen Tätigkeit als Herausgeber und Mitherausgeber von wegweisenden Bänden, monographischen Reihen und wissenschaftlichen Zeitschriften. Man denke an die Bände Music and the Racial Imagination, herausgegeben zusammen mit Ronald Radano (2000), eine Pionierarbeit zur multidisziplinären Reflexion über den Zusammenhang von Musik und Rasse, die Cambridge History of World Music (2013), einen umfangreichen und wichtigen Beitrag zu einer Geschichtsschreibung der Musik auf globaler Ebene, oder Jazz Worlds/World Jazz (2016), einen Band, der weitgefächerte Essays über den Jazz in der globalen Moderne enthält. Die beiden letztgenannten Bücher wurden mit dem Bruno-Nettl-Preis der Society for Ethnomusicology (2015) beziehungsweise dem Ruth Solie Award der American Musicological Society (2017) ausgezeichnet.
Philip Bohlmans wissenschaftlicher Beitrag erstreckt sich auch auf seine Arbeit als Herausgeber und Übersetzer von Johann Gottfried Herders Schriften über Musik und Nationalismus ins Englische (2017), wodurch Herders bahnbrechendes Werk dem heutigen Leser zugänglich gemacht wurde.