Italien
Piero Boitani
Balzan Preis 2016 für Vergleichende Literaturwissenschaft
Das 1992 erschienene Meisterwerk L’ombra di Ulisse markiert den Übergang des 1947 in Rom geborenen Piero Boitani vom Anglisten und Amerikanisten zum Komparatisten. War er bis dahin mit Veröffentlichungen zur afroamerikanischen Literatur in den Vereinigten Staaten, zu Chaucer und zum englischen Mittelalter in Erscheinung getreten, so untersucht er nun den langen Schatten, den der antike Odysseus auf die abendländische Literatur wirft, von Homer über Dante, Ariosto, Tasso, Milton, Leopardi bis zu Fernando Pessoa, Joseph Conrad, Ezra Pound, Jorge Luis Borges, Primo Levi und Wallace Stevens. Boitani geht nicht chronologisch, sondern – im Rückgriff auf Auerbach –typologisch vor, indem er zeigt, wie frühere Odysseus-Figuren auf spätere vorausweisen oder diese zu Erfüllung bringen, was ihren Vorgängern noch verwehrt war. Odysseus wird in dieser Lesart zu einer emblematischen Figur, über die unsere Kultur grundsätzliche Fragen des Menschseins verhandelt: Suche und Scheitern, Neugier und Hybris, Heimkehr und Tod.
Mit L’ombra di Ulisse fand Boitani nicht nur ein Thema, das in fast jedem seiner späteren Bücher eine Spur hinterlässt, sondern auch eine innovative Methode, die es erlaubt, Texte über chronologische Kontinuitäten und kulturelle Grenzen hinweg in einen lebendigen Dialog zu bringen. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes erweist sich in den – wiederholt preisgekrönten – komparatistischen Arbeiten der Folgezeit: In Ri-Scritture (1997) widmet sich Boitani den Neubearbeitungen biblischer Episoden u.a. bei Thomas Mann, Joseph Roth und William Faulkner. In Parole alate (2004) verfolgt er in Dichtung und Wirklichkeit die menschliche Obsession des Fliegens von Ikarus bis zu den Nachtflügen eines Saint-Exupéry und dem Terroranschlag des 11. September 2001. Letteratura europea e Medioevo volgare (2007), das in seinem Titel auf Ernst Robert Curtius’ Standardwerk anspielt, stellt die zentrale Rolle dar, die die volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters bei der Vermittlung der klassischen Antike in die europäische Moderne spielten. Il grande racconto delle stelle (2012) ist ein monumentaler Versuch, die Faszination zu erklären, die das Motiv des gestirnten Himmels auf europäische und außereuropäische (u.a. persische, indische, chinesische) Dichter und Erzähler, Bildende Künstler und Komponisten von Homer bis Stockhausen ausübt. In Riconoscere è un dio (2014) greift Boitani schließlich, in der für ihn typischen Konfrontation antiker mit modernen Texten, das Thema der Anagnorisis wieder auf, das Terence Cave, der Balzan Preisträger 2009, ein Vierteljahrhundert zuvor, doch in ganz anderer Weise in Recognitions. A Study in Poetics (1988) bearbeitet hat.
Mit seinen wirkungs- und rezeptionsgeschichtlichen Forschungen, der Offenheit für kulturwissenschaftliche Fragestellungen, der umfassenden Kenntnis des Western Canon, der Hinwendung zu außereuropäischen Literaturen, der Einbeziehung von Musik und Bildender Kunst, überhaupt: mit seiner stupenden Belesenheit und rastlosen Neugier hat Piero Boitani die Vergleichende Literaturwissenschaft in Italien und weit darüber hinaus erneuert, ohne ihr Fundament aufzugeben. Dieses Fundament ist der in der Originalsprache gelesene Text, der sein Sinnpotenzial durch die dialogische Begegnung mit anderen Texten, Kunstwerken, Kulturphänomenen, geschichtlichen Ereignissen und anthropologischen Gegebenheiten entfaltet. Dass es Boitani gelingt, diesen Prozess der Entfaltung von Sinn in einer eleganten und doch dichten, anspielungsreichen und doch unprätentiösen Sprache nachzuzeichnen, macht ihn zu einem der bedeutendsten Literaturwissenschaftler unserer Zeit und einem würdigen Träger des Balzan Preises.