Dankesrede – Rom, 16.11.1990

Deutschland/Schweiz

Walter Burkert

Balzan Preis 1990 für Altertumswissenschaften

Walter Burkert ist unter den gegenwärtigen Altertumswissenschaftlern der herausragendste Forscher auf dem Gebiet der antiken Religionen. In einer Reihe von grundlegenden Schriften verbindet er Originalität mit grossem Fachwissen auf allen wichtigen Gebieten, von der Archäologie des Mittleren Ostens bis zur Geschichte der griechischen Philosophie, und besticht durch seine profunde Kenntnis der anthropologischen, ethologischen und psychologischen Aspekte der Religion.

Herr Präsident,
Sehr geehrte Damen und Herren der Balzan-Stiftung,
Meine Damen und Herren,

Die grosse Ehre und Auszeichnung, die mir zugefallen ist und für die gebührend Dank zu sagen nicht einfach ist, gilt zugleich meinem Fach, der Altertumswissenschaft im mediterranen Bereich (scienze dell’antichità, bacino mediterraneo). Dies macht es eher noch etwas schwieriger, leichthin zu feiern und sich des Erreichten zu freuen. Inwieweit in Geisteswissenschaften überhaupt von Fortschritt die Rede sein kann, ist an sich schon problematisch; hier aber geht es um die älteste der Humanwissenschaften oder Kulturwissenschaften, die seit gut 2500 Jahren betrieben wird. Nirgends steht der Wissenschaftler so sehr auf den Schultern so vieler Vorgänger, so dass die Anstrengung darauf ausgerichtet, der Erfolg daran gemessen wird, inwieweit es gelingt das erreichte Niveau zu halten – auch wenn zu unserer Freude und zu unserem Gltick Neufunde aus Archiologie, Papyrologie und Epigraphik immer wieder zusätzliche Impulse geben, sodass auch Spezialisten dazulernen können.

Die eigentliche Spannung aber kommt in unser Fach doch eher durch die Bewegung, in der wir selbst uns befinden, wir selbst im Prozess der Gegenwart, wodurch der Abstand zum Vergangenen immer grösser wird, der Widerspruch zwischen dem Erlernten, immer schon Gewussten, und dem, was sich stetig wandelnd uns umgibt, sich immer mehr verschärft. Der Wandel schon im Verlauf einer Forschergeneration ist fast schmerzhaft spürbar. Nach dem zweiten Weltkrieg, als ich zu studieren begann, konnte man sich mit Resonanz und gutem Gewissen auf das “Abendland” berufen mit seiner “humanen” und humanistischen Tradition; wenn man heute von “Europa” spricht, so ist das ein Wirtschaftsraum im Ringen um Selbstbehauptung als Provinz einer Weltgesellschaft und Weltwirtschaft. Eine bestimmte Form, ein Ideal der humanitas als das unsere in Anspruch nehmen zu wollen, sieht nach kolonialistischem Hochmut aus oder gerät gar in Rassismus-Verdacht. Das “antike Erbe” schrumpft zu einem immer kleiner werdenden Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Die stolze Selbstdefinition des Menschen als zoon logikon, animal rationale, wie sie von der Antike geblieben war, scheint um ihren Sinn gebracht zwischen der Rationalität des Computers auf der einen Seite und dem Misstrauen gegen einsträngige, maskulingewaltsame Rationalität überhaupt auf der anderen.
Im eigenen Kreis bleibt die Altertumswissenschaft faszinierend und oft erregend, die Aufklärung der eigenen Sprach- und Kulturtradition über mehr als zwei Jahrtausende mit ihrem Wandel und ihrer Beständigkeit, ihrer Fremdartigkeit und zwingenden Nähe. Ich weiss mich da einig mit vielen ausgezeichneten Kollegen und erlebe auch an Studenten immer wieder solche Faszination. Es erscheint von hier aus fast als Eingriff, der die Kreise stört, wenn nun ein einzelner herausgegriffen und durch einen so grossen Preis “ausgezeichnet” wird.

Was sagt der Gott, und was will er andeuten? fragte sich Sokrates, als das Delphische Orakel ihn zu seiner Überraschung zum “weisesten Menschen” erklärt hatte. Dieser Vergleich ist natürlich viel zu hoch gegriffen, ja vermessen; zudem hat der Wissenschaftler von heute Bücher aufzuweisen, die er geschrieben hat, was ein Sokrates bekanntlich verschmähte. Aber ganz unähnlich sind die Überlegungen nicht, die ein Balzan-Preis veranlassen kann. Warum das Herausgreifen, die Ver-einzelung?
Vielleicht, möchte mir scheinen, war entscheidend, dass ich mich gerade um die Grenzzonen, die problematischen Ränder der antiken Kultur besonders bemüht habe.

Ging es in meinem ersten Buch um die Anfänge von rationaler Mathematik und Naturwissenschaft im Bereich der Pythagoreer, so suchte ich doch im Hintergrund die Wirkung einer vorwissenschaftlichen “Weisheit”, verwurzelt in einem Bereich von Wunder und “Schamanismus”. Ich versuchte dann weiter einzudringen in die noch ältere Basis griechischer Kultur, in Grundformen menschlicher Kultur überhaupt, die im Bereich der religiösen Tradition ausgeformt erscheint. Auch das haben andere vor und neben mir betrieben. Vielleicht, dass es mir gelang mehr Nachdenken auf den Bahnen von Funktionalismus und Systemtheorie einzubringen; vor allem glaube ich von Karl Meuli einerseits, von Konrad Lorenz andererseits gelernt zu haben, dass man es riskieren kann von der eigenen Person aus zu “verstehen”, ohne im eigenen Überlegenheitsgefühl bei sogenannten “Primitiven” oder anderen Lebewesen stecken zu bleiben. Dass gerade Schockierendes, Erschreckendes in den Blick trat, homo necans, der Mensch, der tötet, war für den zu sehen, der einen Weltkrieg und Umsturz von Werten miterlebt hatte. Im fassbareren, schon literarisch fixierten Bereich habe ich zudem versucht, die Beziehungen nichtgriechischer und griechischer Hochkultur genauer zu fassen, das sogenannte “Orientalische” – ohne direkten Zusammenhang, doch in zeitgenössischer Parallelität zu den Herausforderungen, die heute vom Nahen Osten dem “Abendland” wieder erwachsen sind.
Ich glaube, dass bei alledem durchaus etwas von der “klassischen” Tradition der humanitas übrig bleibt, ein Postulat der geistigen Freiheit, das doch auch in den überraschenden, hoffnungsvollen Entwicklungen der jüngsten Zeit weltweit sich zu Wort gemeldet hat, Freiheit der Information und persönlichen Entscheidung über die Akkumulation von Gütern hinaus; es gehört dazu auch ein Begriff von sachlicher Wahrheit, und der Respekt vor ihr, jenseits von Interessen und Manipulation, eine Wahrheit des “Seienden”, wie es die Griechen formuliert haben. Jeder Wissenschaftler wird einem solchen Ideal verpflichtet bleiben.

Gern werden wir Altertumswissenschaftler weiter unseren Garten bestellen, unseren “abendländischen” Garten, Garten der Hesperiden, in dem einst die Götter weilten. Doch wissen wir, dass dieser Garten Teil ist einer von rauhen Winden und Klimakatastrophen bedrohten Welt, den stetigen Bedrohungen vorübergehend abgerungen. Wer den von den Einzelphänomenen gestellten Fragen konsequent nachgeht, wird Altertumswissenschaft in einem aligemeineren kulturwissenschaftlichen Rahmen betreiben; er wird sich in immer weitere, oft überraschende Problemhorizonte geführt sehen – und er wird dann auch in weiteren Kreisen erstaunliche und beglückende Resonanz finden. Für eine solche beglückende Resonanz habe ich, zugleich im Namen meines Faches, der Balzan-Stiftung ganz besonders zu danken.

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