Deutschland
Balzan Preis 2005 für Kunstgeschichte Asiens
Dankesrede – Bern, 11.11.2005
Sehr geehrter Herr Bundesrat,
Sehr geehrte Mitglieder des Balzan-Preiskomitees,
Meine Damen und Herren,
die Balzan-Stiftung versteht es offensichtlich, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist eine sinnvolle Entscheidung, jedes Jahr vier neue Felder zu benennen, in denen die Preise verliehen werden. Das erlaubt es der Stiftung, Akzente zu setzen und vielversprechende Forschung zu fördern.
Es war auch eine gute Entscheidung, einmal die Kunstgeschichte Asiens zu wählen. In den letzten Jahrzehnten wurden weltweit enorme Fortschritte in der Erforschung asiatischer Kunst erzielt. Das verdient öffentliche Anerkennung. Doch die Kunstgeschichte Asiens ist auch ein Gebiet mit viel Zukunft. Es gibt hier noch so viel Unbekanntes, und es werden hier Methoden wissenschaftlicher Analyse entwickelt, die dann auch für die normale, damit meine ich eine auf Europa zentrierte Kunstgeschichte, Gewinn bringen werden.
Mein eigenes Gebiet ist die chinesische Kunstgeschichte, und in vielen meiner Arbeiten habe ich mich mit der chinesischen Schrift befasst. Sie ist das komplexesteSystem von Formen, welches die Menschheit in vormoderner Zeit entwickelt hat. Mehr als 70.000 distinkte Schriftzeichen zu erfinden, die sich alle voneinander unterscheiden, ist vielleicht die bemerkenswerteste Leistung der Chinesen.
Der Einfluss dieses Systems auf das Denken und die gestalterische Sensibilität eines jeden, der Jahre seiner Kindheit damit verbringt, es zu lernen, ist wohl kaum zu überschätzen; desgleichen das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit all derer, die diese Erfahrung gemacht haben. Das über drei Jahrtausende im Wesentlichen gleich gebliebene Schriftsystem scheint mir zudem ein erheblicher Grund für die in der Welt einmalige politische und kulturelle Kohärenz Chinas zu sein.
In meinem Buch Ten Thousand Things habe ich gezeigt, dass Zehntausende von Schriftzeichen nur entworfen und memoriert werden können, indem man sie aus graphischen Bausteinen, aus Modulen zusammensetzt. Ein neues Schriftzeichen wird dann nicht mehr völlig neu erdacht, sondern der Designer braucht in einem bereits bekannten Zeichen nur ein Modul hinzuzufügen oder eines auszuwechseln. Ich habe dann versucht, eine modulare Gestaltungsweise auch in der chinesischen Kunst zu analysieren. Modulare Kunstproduktion ermöglicht es, durch immer neue Kombination vorgefertigter Teile und in Arbeitsteilung rasch eine beliebige Zahl von Produkten in hoher Qualität herzustellen. Das gilt für die weltbekannte Terrakotta-Armee des Ersten Kaisers mit ihren über 7.000 Figuren, für den Buchdruck mit beweglichen Lettern – eine besonders typische Frucht modularen Denkens –, oder für die über hundert Millionen Stück Porzellan, die die Chinesen im 17. und 18. Jahrhundert nach Europa exportierten.
Jemand, der heute über China spricht, macht gerne Prophezeiungen, meistens natürlich über die Entwicklung der Wirtschaft in den nächsten fünf, zehn oder zwanzig Jahren. Auch ich möchte hier eine Vorhersage wagen: in hundert Jahren werden die Chinesen immer noch ihr Schriftsystem lernen und benutzen. Und das wird sie immer noch unterscheiden von allen anderen Völkern der Erde, die das nicht tun werden. Wenn Sie mir nicht glauben, sprechen wir uns in hundert Jahren wieder.
Von uns Wissenschaftlern, die wir uns mit der Kunstgeschichte Asiens befassen, wird oft gefordert, dass wir legitimieren, was wir tun, und warum wir es tun. Eine überzeugende Antwort ist, dass im globalen Zeitalter die Kenntnis über und der Respekt für die grossen kulturellen Leistungen Asiens eine erquickliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit erleichtert. Doch es gibt noch einen anderen, einen tieferen Grund. Die Kunstgeschichte Asiens ist Teil des reichen kulturellen Erbes der Menschheit. Indem wir dieses Erbe erforschen und in der Welt bekannter machen, wirken wir daran mit, die darin Gestalt gewordenen humanen Werte zu erhalten und zu pflegen.
Die hohe Wertschätzung humaner Werte seitens der Balzan-Stiftung ist wohl bekannt. Ihre Entscheidung, mein Werk anzuerkennen, ist die höchste Ehre, die ich erhoffen konnte.