Deutschland/Usa
Lorraine Daston
Balzan Preis 2024 für Wissenschaftsgeschichte (Neuzeit und Gegenwart)
Der rote Faden, der einen Großteil von Lorraine Dastons Arbeiten zu relevanten Themen und bedeutenden Persönlichkeiten der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens in der Neuzeit verbindet, ist die ständige Betonung der Analogie zwischen den Konzepten und Paradigmen, die die Entwicklung in der Wissenschaft begleiten und denjenigen, auf die sich die historische Entwicklung anderer Wissensgebiete und gesellschaftlicher Organisationsformen stützen. Dieser charakteristische Zug zeigt sich schon in ihrer ersten Monographie (Classical Probability in the Enlightenment, 1988), in der die präzise Rekonstruktion der im 18. Jahrhundert geschaffenen Grundlagen einer auf streng mathematischen Methoden beruhenden prädiktiven Wissenschaft, die nicht auf Kosmologie und Teilchenphysik beschränkt bleibt, sondern ihre verbreitete Anwendung in den Moralwissenschaften, bei der Berechnung von Risikofaktoren, bei der Anerkennung von Wundern usw. dokumentiert. Das langjährige Engagement der Autorin für eine Konzeption der Wissenschaftsgeschichte als integraler Bestandteil der globalen Wissensgeschichte wird in einem ihrer jüngsten Bände, Rules (2022), bestätigt, wobei sie die Entstehung und die ständig wachsende Durchdringung des Konzepts des Gesetzes/der Regel nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern in allen Bereichen der Kultur und der sozialen Praxis veranschaulicht.
Die Absicht, die These von der „splendid isolation“ der naturwissenschaftlichen Disziplinen in Frage zu stellen und ihre erkenntnistheoretischen Verbindungen mit den Geistes- und Sozialwissenschaften zu betonen, belebt die Reihe der aufschlussreichen Essays, die sie den „transversalen“ Begriffen Naturordnung, Objektivität, Theorie, Tatsache und Wahrheit widmet. In dem erfolgreichen Buch Wonders and the Order of Nature (1150-1750) von 1998, das in Zusammenarbeit mit Katharine Park entstand, wird der Leser auf eine faszinierende Reise mitgenommen. Sie führt ihn von einem voller Monster, Wunder und Wunderlichkeiten besetzten Mittelalter bis hin zur völligen Umkehrung dieser Vision, wobei eine von Gesetzen beherrschte Natur ausnahmslos bestätigt wird und zur Aufklärung führt.
In Objectivity (2007, mit Peter Galison) hat Lorraine Daston durch die genaue Analyse einer Reihe historischer Fälle gezeigt, wie die Beteuerungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum objektiven Charakter ihrer Theorien oft nicht auf genauen Beobachtungen und experimentellen Beweisen beruhen, sondern auf Verallgemeinerungen, auf vorgefassten Meinungen über die Beschaffenheit der Natur und deren Ziele, auf religiösen Überzeugungen und auf der Zugehörigkeit zu Bezugsgemeinschaften, die mit anderen konkurrieren.
Lorraine Daston hat auch aufschlussreiche Aufsätze geliefert zum Prozess des Übergangs von der Vorherrschaft einer von starkem Wettbewerbsgeist und extremer Geheimhaltung geprägten Einzelforschung hin zum Entstehen – ab Mitte des 18. Jahrhunderts – von internationalen Kooperationsnetzen zur Durchführung von Projekten, die erhebliche finanzielle Unterstützung und hochentwickelte Infrastrukturen erforderten. Unter diesem Gesichtspunkt sind die in ihrem jüngsten Band (Rivals: How Scientists Learned to Cooperate, 2023) versammelten Aufsätze beispielhaft. Ausgehend von zwei der ersten konkreten Äußerungen, die ein Bewusstsein von den Vorteilen eines Zusammenschlusses zum Ausdruck bringen (die 1761 und 1769 organisierten Expeditionen zur Beobachtung des Venustransits von verschiedenen Orten der Erde aus und das zwischen 1780 und 1792 gebildete internationale Netzwerk zur Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten meteorologischer Veränderungen) analysiert sie die Umstände, die den Beginn und die Entwicklungsdynamik zweier gigantischer Forschungsprojekte kennzeichneten und programmatisch auf internationaler Zusammenarbeit und finanziellen Beiträgen beruhten: die Carte du ciel, die Ende des 19. Jahrhunderts konzipiert wurde, und der International Cloud Atlas, der nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. In einer auch für Nichtfachleute verständlichen Sprache unterstreicht die Autorin, wie die internationalen Wissenschaftsgemeinschaften in Bezug auf ihre Moralvorstellungen, Arbeitsregeln und Entscheidungsprozesse sich von allen anderen Institutionen in der Welt der Kultur und Bildung unterscheiden. Es sind Gemeinschaften, die ausschließlich dank der finanziellen Unterstützung der Nationen, denen sie angehören, funktionieren, aber nichtsdestotrotz eine weitgehende Unabhängigkeit von der Agenda der einzelnen Länder und deren Beziehungen wahren.