Synthèse panoramique: Berne, 16.11.2017 – Forum (vidéo + texte – allemand)

Allemagne

Aleida et Jan Assmann

Prix Balzan 2017 pour les études sur la mémoire collective

Pour avoir élaboré en commun et de manière inter- et transdisciplinaire le concept de « mémoire culturelle » et en avoir clairement défini le sens comme paradigme dans le cadre des études culturelles, mais aussi dans les débats publics ; pour l’échange fécond durant des dizaines d’années sur des réalités et modèles historiques très différents qui s’est révélé complémentaire d’une façon extraordinaire ; pour l’ensemble de l’œuvre individuelle des deux auteurs, qui plus largement présente la mémoire collective comme prémisse pour la création d’identités et de collectivités religieuses et politiques.


Jan Assmann

Obwohl eigentlich alle meine allgemeineren, nicht im engeren Sinne ägyptologischen Arbeiten sich als Äste eines Baumes verstehen lassen, den unser gemeinsames Projekt des kulturellen Gedächtnisses darstellt, hat das Thema tiefe Wurzeln in meinem Leben, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Ich bin in Lübeck aufgewachsen, einer hoch- und spätmittelalterlichen Stadt von einer vollkommen einzigartigen, ikonischen Schönheit. Die Stadt liegt auf einer mandelförmigen von einem doppelten Wasserring umschlossen Insel und bietet dem von Westen Kommendem – und wir wohnten damals knapp westlich der Altstadt – die grandiose Silhouette der fünf hinter dem Holstentor aufgereihten Kirchen mit ihren sieben hellgrün patinierten spitzen Türmen dar, um die sich dichtgepackt die ziegelbraunen Giebelhäuser drängten. Als Kriegskind habe ich die Zerstörung Lübecks miterlebt und ab meinem fünften Lebensjahr über Jahre hin Stöße von Papier mit Zeichnungen und Aquarellen des unzerstörten Lübeck gefüllt, nicht nach der Natur natürlich, wie ich sie vor Augen hatte und die ganz anders aussah, sondern nach unzähligen Fotos, Gemälden, Stichen, Zeichnungen, die Lübeck als Ikone in dem verankert hatten, was wir dann später das kulturelle Gedächtnis nannten. Wie soll man dieses rastlose kindliche Treiben anders verstehen als die Sehnsucht nach Vergangenheit? So war es vielleicht kein Wunder, dass ich neben Archäologie und Gräzistik vor allem Ägyptologie studierte, denn weiter als ins alte Ägypten kommt man nicht zurück, wenn man sich im Horizont der schriftlichen Überlieferung bewegt.

Der Arbeitskreis, den Aleida und ich vor genau 40 Jahren gründeten, hat sich der Erforschung eben dieses Horizonts verschrieben. Wir hatten die literatur-archäologische Perspektive schon von Anfang an als ein gemeinsames Terrain von Literaturwissenschaft und Archäologie in gemeinsamen Studien und unendlichen Gesprächen erkundet und wollten das nun nach dem von uns bewunderten Vorbild des Arbeitskreises „Poetik und Hermeneutik“ auf breiterer Basis fortsetzen. So entstand schon nach wenigen Jahren der Baum, der auf Aleidas Seite viele Zweige über Literatur und Kunst hinaus in Richtung Geschichte, Politik und Zeitbewusstsein trieb. Auf meiner Seite ging und geht es immer um die Vergangenheit, die Ursprünge, die frühen Weichenstellungen der kulturellen Entwicklung. Das ist der unschätzbare Vorzug unserer Arbeitsgemeinschaft, dass man sich die Arbeit teilen und dennoch das Ganze im Blick behalten kann. Der Balzan-Preis, der dem Ehe- und Forscherpaar gilt, hat das in der treffendsten Weise erfasst, so unfassbar auch uns selbst diese hohe Auszeichnung erscheinen will. Wer hätte sich das träumen lassen, als wir mit diesem Projekt anfingen und immer wieder, bis heute, auf Skepsis, Widerspruch und Ablehnung stießen.

Der erste Ast, den unser Baum trieb, war ein gemeinsames Buch über das kulturelle Gedächtnis. Dieser Ast teilte sich, weil Aleida ihre Kapitel ausgliederte, um sich mit ihnen zu habilitieren, und ich die meinen als eigenes Buch publizierte, das vor 25 Jahren unter dem unbescheidenen Titel „Das kulturelle Gedächtnis“ erschien. Dieses Buch hat zwei Teile. Der erste Teil versucht eine theoretische Grundlegung unserer Konzeption in drei Kapiteln: „Erinnerungskultur“, „Schriftkultur“ und „Identität“. Hier geht es vor allem um drei Aspekte: 1. den mnemonischen Charakter der Überlieferung in allen ihren mündlichen, schriftlichen, rituellen, ikonischen Medien, der sich in unserer Sicht nur aus der Dynamik des Gedächtnisses, des Erinnerns und Vergessens, beschreiben lässt, 2. die besondere Rolle der Schrift, und hier vor allem die Prozesse der Kanonisierung und Kommentierung, und 3. die Verbindung zwischen Vergangenheit und Identität, auf der die Gedächtnisfunktion der Überlieferung beruht. Für keinen dieser im ersten Teil meines Buches entfalteten Aspekte kann ich außer der Formulierung eine Art von Copyright beanspruchen, das bezieht sich in allen Punkten auf unsere gemeinsame Theorie. Vor allem den Begriff der Erinnerungskultur hat Aleida dann in ihren Büchern so eindringlich entfaltet, dass er geradezu in die Alltagssprache eingegangen und zu einem festen Begriff geworden ist.

Das Besondere unserer Theorie liegt darin, dass sie sich zugleich als Gedächtnis- und als Kulturtheorie versteht. Sie erweitert die Gedächtnistheorie um die Dimension der symbolischen Formen der Kultur, und sie analysiert die Kultur auf ihre Funktion als das in symbolischen Formen objektivierte Gedächtnis einer Gruppe hin. Bis dahin wurde der Begriff „Gedächtnis“ strikt auf den Körper beschränkt. Was kein Gehirn hat, so die These, hat kein Gedächtnis. Dagegen lässt sich zweierlei einwenden. Erstens leben wir in einer Sphäre von Texten, Bildern, Riten, Landschaften, Speisen, die Erinnerungen speichern und in uns wachrufen, und zweitens gibt es nicht nur ein Gedächtnis, das man hat, sondern auch ein Gedächtnis, das man sich macht und zwar ganz besonders als Gruppe, von der Familie über Nation und Religion bis zur Menschheit und ihrem „Weltkulturerbe“.
Innerhalb des prinzipiell unendlichen Raums möglichen Vergangenheitswissen bildet das kulturelle Gedächtnis einen Horizont der „eigenen“ Vergangenheit, der aber immer Vielfältiges und Heterogenes einbegreift und nach außen hin offen ist, sowie immer Neues einschließt und Altes, bedeutungslos Gewordenes ausschließt. Dabei geht es uns nicht um normative, sondern um konstative, d.h. festellende Aussagen, nicht im Sinne von „so soll es sein“, sondern „so ist es“, nämlich das, was überall um uns herum ständig geschieht und was auf Begriffe gebracht werden muss, um es analysieren und auch kritisieren zu können.

Diesen zweiten Aspekt unserer Theorie habe ich dann im zweiten Teil des Buches anhand des Vergleichs von vier frühen Schriftkulturen illustriert, die voneinander wussten und miteinander in Verbindung standen: Ägypten, Israel, Mesopotamien und Griechenland. Ausgangspunkt war die These, dass der Gebrauch, den diese vier Kulturen von der Schrift in der Organisation ihres kulturellen Gedächtnisses und ihres politischen Selbstbilds machten, jeweils vollkommen verschiedene Formen und Richtungen ausbildet. Damit widersprachen wir der damals herrschenden Theorie einer Medienevolution, die davon ausging, dass die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft, sobald sie einmal begonnen hat, Schrift zu verwenden, unweigerlich in einer Richtung verläuft. Hier haben wir es mit vier hochgradig schriftverwendenden Kulturen zu tun, deren Entwicklungsgang doch jeweils von ganz unterschiedlichen Faktoren bestimmt wird. In Ägypten liegt das Zentrum der Kultur in den Tempeln und Riten, in Israel in den heiligen Schriften und dem Prozess ihrer Kanonisierung, in Mesopotamien im Recht, nach dessen Modell auch die Geschichte als richterliche Intervention der Götter in menschliches Handeln gedeutet und geschrieben wurde, und In Griechenland in dem, was ich „Hypolepse“ nannte, der Ausbildung epochenübergreifender Diskurse durch Bezugnahme auf die Positionen der Vorgänger.

Von weiteren Ästen, die unser Baum auf meiner Seite getrieben hat, möchte ich nur drei erwähnen: Ägypten, eine Sinngeschichte (1996), Moses der Ägypter (1998) und Exodus (2015). In der Sinngeschichte Ägyptens verfolge ich das Projekt einer „Geschichte von innen“, d.h. so wie sie von den Ägyptern selbst erfahren, erinnert und in gewissem Sinne auch gemacht wurde. In Moses der Ägypter entwickle und illustriere ich das Verfahren der mnemohistory oder Gedächtnisgeschichte am Beispiel der Figur des Mose und zwar speziell am Beispiel jener Sondertradition, die Mose als einen Ägypter versteht, der zu den Hebräern überging. Hier geht es mir um Geschichte als Argument: ich frage nach der impliziten Agenda dieser Autoren, vom Ägypter Manetho, der um 275 v.Chr. schrieb, bis zu Sigmund Freud, dessen Buch Der Mann Moses in den Jahren 1934-39 entstand. Das gemeinsame Anliegen derjenigen Autoren, die ab dem 17.Jh. auf diese apokryphe Überlieferung zurückgriffen, glaubte ich in der Überwindung der Unterscheidung von wahrer und falscher Religion, wahrem Gott und falschen Göttern ausmachen zu können, in der ich die Signatur des Monotheismus jüdischer, christlicher und islamischer Observanz erblickte. Den antiken, als heidnisch ausgegrenzten Religionen war diese Unterscheidung vollkommen fremd, hier herrschte das Prinzip der Übersetzbarkeit der fremden Götter in die eigenen und umgekehrt. Das Buch Exodus schließlich wendet die Methode der Sinngeschichte auf das alte Israel und das frühe Judentum an. Auch hier frage ich nicht, was in der erzählten Zeit, also den Jahrhunderten der späten Bronzezeit, als historisches Ereignis eigentlich passiert ist, sondern nach der Zeit der Erzählung und den Formen und Epochen, in denen die Erinnerung daran gebraucht wurde, um die Katastrophe des Untergangs der Reiche Israel und Juda zu verarbeiten und auf diese Erinnerung das Judentum des zweiten Tempels zu gründen. Das Projekt, dass mir nun, beflügelt vom Balzan-Preis, für die kommenden Jahre vorschwebt, betrifft das Konzept der Achsenzeit, dessen Geschichte weit ins 18. Jahrhundert zurückreicht und erst nach dem zweiten Weltkrieg von dem Philosophen Karl Jaspers auf diesen Begriff gebracht wurde. Dieses Konzept beruht auf der Beobachtung, dass die großen Texte, die unser kulturelles Gedächtnis fundieren, und zwar in Ost und West, von China bis Italien, alle plus/minus im 6.Jh.v.Chr. entstanden und dass ihre Verfasser, Konfuzius, Laotse, Buddha, Zarathustra, Jesaja, Xenophanes, Pythagoras, Aischylos und viele andere Geistesheroen Zeitgenossen waren. Das kann kein Zufall sein, so die These, und verlangt nach einer Erklärung, die man in der Konstruktion eines einheitlichen Menschheitsgeistes und seiner Entwicklung erblickte. Auch dieses Projekt geht aus unserer gemeinsamen Arbeit am kulturellen Gedächtnis hervor, die wir nun voller Dankbarkeit für die Anerkennung und Unterstützung durch die Balzan-Stiftung in den nächsten Jahren in ganz anderem Rahmen fortsetzen können.

Aleida Assmann

Our beginnings never know our ends – dieser Vers aus einem Gedicht von T.S. Eliot fällt mir ein, wenn ich versuche, die Geschichte unserer Arbeit am Konzept des kulturellen Gedächtnisses zu rekonstruieren. Tatsächlich gab es keinen Zeitpunkt, zu dem wir uns bewusst entschlossen hätten, dieses Thema zu unserem Lebensprojekt zu machen. Wie fing es an, was lag vor 40 Jahren in der Luft? Wovon haben wir gezehrt, was hat uns angetrieben, dass wir diese Spur so intensiv aufgenommen und dann nicht mehr aus den Augen verloren haben? Nichts geschieht in einem luftleeren Raum. Wir haben vielfältige Anregungen gefunden: die Medientheorie der Toronto-Schule von Jack Goody und Eric Havelock, die Oral Tradition Forschung von Milman Perry und Albert Lord, die Kultursemiotik von Umberto Eco und Jurij Lotman, die Kulturtheorie von Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann. Hinzu kamen die Impulse aus Nachbarwissenschaften, die wir in unserem Arbeitskreis versammelten wie Theologie und Philologie, Geschichte und Soziologie, und vor allem die außereuropäischen Kultur-fächer wie Sinologie, Ethnologie, Judaistik und Recht. Immer kam es uns dabei auf ein inspirierendes Spanungsverhältnis von historischen Befunden und theoretischen Fragestellungen und Modellen an. Wir wollten in die Einzelwissenschaften eintauchen aber nicht in ihnen auf- oder untergehen, sondern wieder aufsteigen, um zu vergleichen, Beziehungen herzustellen und im interdisziplinären Gespräch zu verallgemeinerbaren Beschreibungen durchzudringen.

Dieser multi-disziplinäre Zugang spiegelte und verdichtete sich in unserem alltäglichen, über die Jahrzehnte fortgesetzten Ehegespräch. Voraussetzung für die Produktivität dieses Gesprächs war dabei gerade auch die Spannung zwischen unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten und Denkstilen. Hier die Kulturen der Antike, Epigraphik, alte Sprachen, schwer zugängliche Quellen und archivalische Gelehrsamkeit, und dort das Studium moderner Literatur und Kunst, avancierter Theorien, neuer Medien, sowie sozialer und politischer Entwicklungen in der Gegenwart. Was uns beflügelt und bei der Stange gehalten hat, war nicht nur Vorgeschichten und Ursprünge aufzudecken und Kulturen zu vergleichen, sondern auch Beziehungen herzustellen zwischen dem scheinbar Abgelegenen und zeitlich Fernen einerseits und aktuellen Erfahrungen und Problemen andererseits. Dabei war die Differenz der Standpunkte unbedingt notwendig, um im Denkraum des Gemeinsamen von der Spannung der Perspektiven zu profitieren, die sich ergänzten, korrigierten und herausforderten.

Kultur wurde bislang unter dem Blickwinkel fest etablierter Strukturen gesehen. Man sprach von Lebensformen, Traditionen, Riten und Praktiken als quasi-naturwüchsigen und selbstverständlich fortdauernden Gegebenheiten. Architektur, Monumente, Bilder und Texte – alles, was einmal geschaffen worden war, so nahm man an, würde ungefragt auch weiter fortbestehen und damit auch unbegrenzt weiter zur Verfügung stehen. Der Blick auf ‚Kultur als Gedächtnis’ verändert diese Sichtweise radikal. Kulturen sind demnach prekäre Gebilde, denn sie existieren in der Zeit und müssen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das bedeutet zugleich auch, dass sie aufgenommen, gelernt, angeeignet und umgesetzt, aber auch gedeutet, verändert und erneuert werden. Es gibt grundsätzlich zwei Techniken, um Inhalte über längere Zeitintervalle im kulturellen Gedächtnis zu halten, ich nenne sie ‚Sicherungsformen der Dauer’ und ‚Sicherungsformen der Wiederholung’. ‚Sicherungsformen der Dauer’ ermöglichen eine drastische Erweiterung der menschlichen Gedächtniskraft durch Gedächtnisprothesen in Form stabiler Datenträger von der Tontafel über das Buch bis zur Diskette. ‚Sicherungsformen der Wiederholung’ dagegen beziehen sich auf wiederkehrende Jahrestage und Gedenkanlässe im rituellen oder nationalen Kalender, die ein vergangenes Ereignis in die Erinnerung zurückrufen, indem sie ein Zeitfenster für die Erneuerung und Aneignung der Erinnerung durch Aufführung und Auseinandersetzung anbieten. Erst mit dieser Dimension der Wiederaufnahme, Praxis, Deutung, Reflexion und Aneignung entsteht die Identität eines gemeinsamen ‚Wir’, und erst diese Identität macht aus einem Gedächtnisspeicher eine kollektive Erinnerung.

Mit dem Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’ untersuchen wir die medialen Bedingungen und den Stoffwechsel von Erinnern und Vergessen innerhalb von Gesellschaften. Denn Gedächtnis, das ist wichtig zu betonen, umfasst immer schon beides: Erinnern und Vergessen. Um etwas zu erinnern, muss vieles vergessen werden. Was erinnert wird, musste gegen anderes durchgesetzt werden. Geistige Innovationen, politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen wie Revolutionen und Regimewechsel führen zur Entrümpelung und zum abrupten Umbau des kulturellen Gedächtnisses; Institutionen wie Museen, Archive und Bibliotheken schaffen eine gewisse Langzeitstabilität und verhindern, dass jede Generation wieder von vorne anfangen muss.

Genau wie die Natur unterliegt auch die Kultur einem Reproduktions- und Nachhaltigkeitsauftrag. Allerdings hat die Kultur im Gegensatz zur Natur keine Gene, um sich zu reproduzieren. Sie tut es deshalb mit Zeichen und Symbolen, die produziert, kommuniziert und weitergegeben werden. Die Bereithaltung und Tradierung kultureller Ressourcen versteht sich ebenso wenig von selbst wie die Bestandswahrung natürlicher Ressourcen. Es ist sicher kein Zufall, dass wir in dem Augenblick begonnen haben, den Begriff des kulturellen Gedächtnisses zu entwickeln als ein ökologisches Denken vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung natürlicher Ressourcen entstand. Der Zusammenhang von kultureller Überlieferung, Identität und Medialität war plötzlich auf radikale Weise offengelegt. Der erste Denkanstoß, der uns Ende der 1970er Jahre in diese Richtung geführt hat, lässt sich in einem Satz zusammenfassen, den der Schriftsteller und Ethnologe Amadou Hampâté Bâ 1960 in einer Rede vor der UNESCO ausgesprochen hat. Er sagte damals: « Mit jedem Greis, der in Afrika stirbt, verbrennt eine Bibliothek“. Jede dieser mündlich gespeicherten und verkörperten ‚Bibliotheken’ entsprach dabei einer unverwechselbaren kulturellen Identität. Indem er die Weltöffentlichkeit mit dem prekären Status dieser ‚Gedächtniskulturen’ konfrontierte, machte er deutlich, dass nicht nur Tierarten sondern auch Kulturen, Sinnwelten und Traditionen vom Aussterben bedroht sind. Viele Stammesgesellschaften bemühten sich damals unter dem Druck postkolonialer Staatenbildung darum, durch Akte der Verschriftlichung ihre Überlieferung und Identität zu fixieren, um sie vor dem Verschwinden zu retten.

In den 1980er und 1990er Jahren erlebten wir dann den Beginn einer anderen medialen Wende, die die Schrift als zentrales Speichermedium der Kultur selbst von Grund auf revolutionierte. Das war ein zweiter Denkanstoß. Die Digitalisierung hat eine neue Speicher- und Kommunikationstechnologie hervorgebracht und eine globale Wende eingeleitet, die uns weiter in Bewegung hält. Es waren diese Medienumbrüche und –revolutionen, die unseren Blick plötzlich auf die Prozesse kultureller Reproduktion gelenkt und uns herausgefordert haben, diese Dynamik selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Und noch ein entscheidender dritter Denkanstoß kam dazu, der uns auf unseren Weg setzte. Das war der sogenannte ‚Historikerstreit’ im Jahr 1986, der in Westdeutschland eine wichtige vergangenheitspolitische Wende einleitete. Unter dem Stichwort einer „Vergangenheit, die nicht vergeht“ bezogen sich Historiker auf die Geschichte der NS-Zeit und debattierten, ob diese Episode der deutschen Geschichte nicht – wie andere Ereignisse auch – allmählich ins historische Archiv überführt werden sollte. Die Debatte, die von einigen Historikern als ein Impuls zur Stillstellung der traumatischen Vergangenheit gedacht war, erwies sich als das genaue Gegenteil: sie führte zu einer aktiven Rückholung dieser Vergangenheit und zur Begründung dessen, was wir heute rückblickend als ‚Erinnerungskultur’ bezeichnen. Was in der Ära des Kalten Krieges mit einem Schlussstrich abgeschlossen und einem Pakt des Schweigens zurückgedrängt worden war, nämlich der von Deutschen geplante und durchgeführte Genozid an den europäischen Juden, kehrte nach 40 Jahren und einem Generationswechsel mit Wucht in das Bewusstsein der Gesellschaft zurück. Da die Zeit die Wunden extremer Gewalt nicht heilt, produziert traumatische Gewalt in der Perspektive der Opfer tatsächlich eine „Vergangenheit, die nicht vergeht“, und die auch nach Jahrzehnten noch der Nachbearbeitung bedarf. Statt diese Vergangenheit der Erosion durch die Zeit zu überlassen oder sie ins historische Archiv zu entlassen, ist das Trauma des Holocaust inzwischen zu einer „Vergangenheit“ geworden, „die nicht vergehen soll“. Das kann mithilfe einer dialogischen Erinnerungskultur geschehen, die die Nachfahren der Opfer mit den Nachfahren der Täter teilen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass auf den Genozid ein Mnemozid (Gedächtnismord) folgt. An die Stelle des Vergessens tritt der Imperativ des Erinnerns: die Namen der Opfer müssen genannt und ihre Geschichten mit Empathie angehört werden. Nur so kann für die Opfer die destruktive Wirkung des Traumas gelindert und für die Nachfahren der Täter die Erinnerung in selbstkritische Verantwortung und eine dauerhafte Orientierung für die Zukunft verwandelt werden. Genau darin kann die ‚verwandelnde Kraft’ einer Erinnerung bestehen, die sich als eine Politik des ‚Trennungsstrichs’ radikal von der Politik des ‚Schlussstrichs’ unterscheidet. Eine solche Vergangenheit, schreibt Amir Eshel, ist „immer schon doppelter Natur: Als unerträgliche Last eröffnet sie zugleich einen Möglichkeitsraum der Veränderung – ihre ‚Zukünftigkeit’ ist die Potentialität der Geschichte, Vorschein des Besseren und Maßstab unseres Handelns im Hier und Jetzt.“

Wir danken der Jury und der Balzan Stiftung, dass Sie unsere gemeinsame Forschung heute mit diesem ehrenvollen Preis würdigen. “Every limit is a beginning as well as an ending.” Diesen Satz von George Eliot möchte ich auf den heutigen Festakt anwenden: Er markiert für uns eine wichtige Grenze, an der Sie uns die Gelegenheit geben, die langfristigen Intentionen unserer eigenen Arbeit zu reflektieren und diese mit Ihrer unschätzbaren ideellen und materiellen Unterstützung weiter fortzusetzen.

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